Olympische Spiele sind für jeden Leichtathleten die grösste Bühne der Welt. Hier werden Legenden geschrieben, hier zählt es, hier wird abgerechnet. An diesem berühmten «Tag X» bereit zu sein, ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine mentale Herausforderung. Die besonders hohe Motivation und die Bereitschaft, wirklich das Allerbeste zu zeigen, kann bei den einen in zu viel Druck umschlagen, führt aber im Idealfall zu einer besseren Leistung.
Hinzu kommt die Konkurrenz, die in der genau gleichen Situation ist. Das treibt an, das fordert einem das Letzte ab. Karsten Warholm stiess über 400 m Hürden auch deshalb in eine neue Dimension vor, weil er von Rai Benjamin derart gefordert wurde. Im Olympiafinal in Tokio, aber auch schon in den Monaten und Jahren zuvor.
Ein wesentlicher Faktor sind die Fortschritte in der Trainingslehre. Im Radsport prägte das Ineos-Team (früher Team Sky) den Ausdruck der «marginal gains». Das bedeutet: Viele kleine, unscheinbare Details können in der Summe zu einem entscheidenden Vorsprung führen, wenn man sie verbessert.
Das führt von der Suche nach einem besseren Schlaf – die Bedeutung der Regeneration ist jedem bewusst – über die richtige Ernährung hin zum wissenschaftlich ausgeklügelten Training. Kein Profisportler schnürt sich morgens die Schuhe und geht nach Lust und Laune joggen, jede Einheit ist Teil eines strukturierten Plans.
Was für die Darsteller gilt, gilt auch für die Bühnenbauer: Sie entwickeln ihre Produkte ebenfalls laufend weiter und wollen den Sportlern die Möglichkeit geben, Rekorde zu laufen.
Im Olympiastadion von Tokio wird auf einer Bahn des renommierten italienischen Herstellers Mondo gelaufen. Für die Spiele 2020 wurde der «Mondotrack WS», der 2016 in Rio de Janeiro eingesetzt wurde, noch einmal optimiert. «Wir wollen den Sportlern dabei helfen, bei einem der grössten und aufregendsten Wettkämpfe der Welt ihre schnellsten Zeiten zu erzielen», sagte Mondo-Chef Maurizio Stroppiana vor den Spielen.
Der Belag besteht aus mehreren Schichten, die das Ziel haben, den Athleten bei jedem Auftreten Energie zurückzugeben – ähnlich einem Trampolin. Die oberste Schicht bildet ein elastisches Gummi-Granulat, das für bessere Rutschfestigkeit und Traktion sorgen soll. Darunter ist eine Wabenstruktur mit sechseckigen Luftkammern verlegt, laut dem Hersteller «um die Kontaktzeit mit dem Bodenbelag zu minimieren und die Energierückgabe zu maximieren.»
Auch in der untersten Schicht ist Luft. Die dortigen Kammern «wirken wie Bogensehnen, die die Sportler nach oben und nach vorne schleudern», wirbt Mondo.
«Es fühlt sich an, als würde ich auf Wolken laufen», schwärmte der US-Sprinter Ronnie Baker im «Independent». Sein Kollege Akani Simbine aus Südafrika sagte: «Man weiss, wie sich schnelle Strecken anfühlen. Und für uns fühlt sich diese Strecke wirklich schnell an.»
24 Stunden nach dem Norweger Karsten Warholm gewann in der Nacht auf heute auch Sydney McLaughlin mit neuem Weltrekord über 400 m Hürden. Die Amerikanerin stellte in Tokio fest: «Manche Bahnen absorbieren deine Bewegung und deine Kraft. Diese Bahn regeneriert sie und gibt sie dir zurück. Das kann man definitiv spüren.»
Das Sportgerät der Läufer wurde und wird unaufhörlich weiterentwickelt. Mal geht es darum, dass die Schuhe leichter werden, ein anderes Mal steht ihre Stabilität im Vordergrund. Der neuste Entwicklungsschub wurde von Nike angestossen und erfolgte zunächst im Ausdauerbereich: Die Schuhe haben nun eine steife Platte und einen speziellen Schaumstoff in der Sohle. Das führt zu einer Art Katapult-Effekt. Bei jedem Schritt gibt der Schuh seinem Träger Energie mit auf den Weg.
Wenn man will, kann man durchaus von «mechanischem Doping» sprechen, als so bahnbrechend gilt die technische Entwicklung. Die fand schon immer statt, seit der Mensch nicht mehr barfuss, sondern in Schuhen rannte – aber vielleicht nicht mit einem so grossen Fortschritt auf einmal. Die neuen Schuhe haben dickere Sohlen, laut der «NZZ» verlängern sie so gewissermassen die Beine der Sportler um zwei Zentimeter. Das könne im Sprint durchaus ein Vorteil sein.
Interessant ist, dass ausgerechnet Weltrekordler Karsten Warholm die Katapult-Schuhe kritisiert. Das Nike-Produkt sei «bullshit», sagte der Olympiasieger, der mit Puma-Schuhen an den Füssen läuft. «Auf der Mitteldistanz kann ich es verstehen, wegen der Dämpfung. Wenn man eine Dämpfung will, kann man eine Matratze unterlegen. Aber wenn man ein Trampolin drunterlegt, finde ich das Blödsinn, und ich denke, das nimmt unserem Sport die Glaubwürdigkeit», sagte Warholm im «Guardian».
«Ich habe auch eine Karbonplatte drin», gab Warholm zwar zu, «aber wir haben versucht, sie so dünn wie möglich zu machen.» Sein Schuh wurde von Puma in Zusammenarbeit mit dem Formel-1-Team Mercedes entwickelt. «Natürlich wird es immer Technologie geben. Aber ich möchte sie auf einem Niveau halten, auf dem wir die Ergebnisse mit früher vergleichen können, denn das ist wichtig.»
Damit hat Warholm recht. Denn ein Weltrekord begeistert vor allem deshalb, weil er nur selten vorkommt. Wenig schadet einer Sportart so sehr wie Beliebigkeit. Als 2008 im Schwimmen ein neuer Ganzkörperanzug eingeführt wurde, purzelten die Weltrekorde fast in jedem Rennen. Nach zwei Jahren wurden die Anzüge verboten, die Zeiten pendelten sich wieder auf langsamerem Niveau ein, die Rekordflut war gestoppt.
Ist es nun also die Bahn mit ihren Luftblasen? Sind es vor allem die Schuhe mit den Karbonplatten? Wird schlicht besser, härter und mehr trainiert? Die Vermutung liegt nahe, dass es eine Kombination aller drei Faktoren sein dürfte. Ob noch ein vierter ins Spiel kommt? Es ist unvermeidlich, dass über Dopingmissbrauch gemutmasst wird, wenn Rekorde nicht nur unterboten, sondern geradezu pulverisiert werden.
«Die Leute sagen, es liegt an der Strecke, den Schuhen und den Bedingungen, die wirklich gut waren. Aber ich könnte andere Schuhe tragen und trotzdem schnell laufen», sagte Rai Benjamin, der Silbermedaillengewinner über 400 m Hürden, der ebenfalls deutlich unter der alten Weltrekordzeit blieb.
Auch Elaine Thompson-Herah, die Doppel-Olympiasiegerin mit brillanten Zeiten über 100 m und 200 m, wurde gefragt, weshalb sie so schnell sei. «Wegen des Trainings», antwortete die 29-jährige Jamaikanerin. «Die Bahn oder die Schuhe spielen keine Rolle.»