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Corona im Dokfilm: verspielt, absurd, entsetzlich. Am Visions du Réel

Blick ueber die Altstadt von Nyon, Kanton Waadt, mit dem Chateau de Nyon, auf den Genfersee, aufgenommen am 14. Juli 2007. Im Schloss befindet sich heute das historische Museum und das Porzellanmuseum ...
Nyon ist ein wirklich hübsches Ausflugsziel. Normalerweise kann man das dortige Filmfestival auch vor Ort geniessen, aktuell nur im Netz.Bild: KEYSTONE
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Sind wir hier bei Netflix? Das Dokfilm-Festival Nyon streamt 142 Filme für 25 Franken

Verspielt, absurd oder ganz einfach entsetzlich: Aus dem Programm des Festivals Visions du Réel, das heuer integral gestreamt werden kann, haben wir uns vier Corona-Dokus aus New York, Italien und Shanghai angeschaut.
14.04.2021, 16:5615.04.2021, 11:41
Simone Meier
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Wenn Männer Sex wollen, sagt eine 74-Jährige, benutzen sie Ausdrücke wie «intim werden» oder «Intimität». Sie hat damit Erfahrung, denn sie ist eine von vielen, die im Dokfilm «Searchers» von Pacho Velez auf Dating-Plattformen mehr oder weniger intime Kontakte suchen. Eine Endsechzigern sagt, mit Männern gehe es ihr genau gleich wie alten Männern mit Frauen: Nur Jüngere seien attraktiv. Und wenns die nicht im Angebot habe, bleibe sie lieber zuhause und freue sich über schöne Schauspieler im Fernsehen. Eine 19- und eine 20-Jährige sind Sugar Babys und suchen nach den passenden Daddys: Nur das Geld zählt, nicht das Alter. Und Regisseur Pacho Velez checkt seine Plattformfrauen gleich mit seiner Mutter zusammen aus, denn die möchte schon, dass ihr Sohn endlich mal heiratet. Sie alle leben in New York.

Die Suche in «Searchers» ist eine Mischung aus Verspieltheit und heiterer Verzweiflung. Denn da sind nicht nur die Bedürfnisse und Neurosen der Grossstadtmenschen, die es zu befrieden und befriedigen gibt, nein, da ist auch noch die Isolations-Zentrifuge Corona. Aber die kommt in den Gesprächen nicht vor, die wird quasi weggelächelt, die sieht man nur bei den Kamerafahrten durch die Stadt – der reine Neid derer, die alleine sind, auf alle, die zu zweit sind und sich ohne Maske küssen dürfen.

Searchers
Zwei junge Frauen auf der Suche nach wohlhabenden Männern, die sie «unterstützen». Der hier gibt an, 35 zu sein und 10 Millionen Dollar zu besitzen.Bild: Visions du Réel

«Searchers» ist in Amerika sehr beliebt, er bedient ein Bedürfnis nach Tapferkeit in der Krise, Träumen, die immer etwas grösser sind als die Realität, und der Suche nach Mr. oder Mrs. Big in New York. Und doch ist es von den coronabezogenen Dokumentarfilmen, die bis zum 25. April am Festival Visions du Réel in Nyon am Genfersee gezeigt werden, der harmloseste Film mit dem geringsten Nachhall.

Visions du Réel 2021

Selbstbewusst ins Netz
Das 52. Festival des internationalen Dokumentarfilms in Nyon, das vom 15. bis zum 25. April stattfindet, dürfte sowas wie den preiswertesten Festivalpass der Gegenwart anbieten. Er kostet tatsächlich bloss 25 Franken. Dafür hat man Gelegenheit, online 142 neue Dokumentarfilme oder Dokuserien zu sehen, 83 davon sind Weltpremieren. Zum Programm geht es hier. Was allerdings nicht heisst, dass man sich nicht beeilen sollte, denn jeder Film ist während 72 Stunden online und wird für 500 Sichtungen frei gegeben. Und: nur in der Schweiz.

In Nyon selbst werden wenige Events für Kleingruppen stattfinden, etwa Workshops oder Visionierungen für Presse und Branche, Publikums-Vorführungen sind heuer weitgehend ins Netz verlegt.

Nach dem Entscheid des Bundesrates vom 14. April ist zusätzlich beschlossen worden an vier Tagen gegen 50 öffentliche Kinovorstellungen stattfinden zu lassen. Gezeigt werden u.a. die Filme des Internationalen Wettbewerbs, des Wettbewerbs Burning Light, des Nationalen Wettbewerbs und des Wettbewerbs Grand Angle.

«Io Resto» («My Place Is Here») von Michele Aiello beispielsweise ist eine Erschütterung von einem Film, obwohl man schon alles zum Thema Spitalsituation unter Corona zu wissen glaubt. Im März 2020 dokumentiert Aiello den Alltag eines Spitals in Brescia, also keine 50 Kilometer von Bergamo entfernt, wo die Karawanen der Leichenlaster die Welt schockieren.

Io resto
Diese alte Corona-Patientin im Spital von Brescia muss gesund werden – sie hat einen 60-jährigen Sohn, der schwer unter Parkinson leidet.Bild: Visions du Réel

Wir erleben Corona aus der Sicht des Personals, den unfassbaren Stress angesichts der Menge der Infizierten, der Sicherheitsmassnahmen, die alle zusätzlich Zeit kosten, der Triagen und vor allem angesichts der Menschlichkeit, die trotzdem noch gefordert und nötig ist. Menschlichkeit im Umgang mit den von ihren Familien abgeschnittenen meist sehr alten Menschen, aber auch im Umgang mit den Angehörigen, die am Telefon weinend zusammenbrechen, wenn der Arzt ihnen mitteilen muss, dass Morphium jetzt der einzige Weg ist, um die letzten Tage ihrer Mutter oder ihres Vaters noch einigermassen erträglich zu machen.

Trailer zu «Io Resto»

Die regelrechte Engelsgeduld des Personals ist bewundernswert, der Moment, in dem aus Stress Testformulare und Proben durcheinander zu geraten drohen, ist auch fürs Publikum ein Stresstest. 90 Prozent der positiv Getesteten, die eingeliefert werden, sterben, sagt eine Schwester, eine andere erzählt die Geschichte der Mutter eines erkrankten autistischen Sohnes, die auf den Schutz einer Maske verzichtete, weil ihr Kind sie sonst nicht mehr erkannte, sich selbst ansteckte und starb.

«Io Resto» will weder Kunst sein noch irgendwas zurecht stilisieren oder kommentieren, der Film stellt sich ganz in den Dienst der Sache, ist ein reines Speichermedium für ein paar Tage und ihre Geschichten in jener Hölle, die Corona vor knapp einem Jahr mitten unter uns aufriss. Ein Film, den sich ganz dringend alle anschauen sollten.

My Quarantine Bear
Weijia Ma ist gerade in Shanghai gelandet – ihr Gepäck nicht. Doch da sie die nächsten 14 Tage in Quarantäne verbringt, braucht sie wirklich nicht viel.Bild: Visions du Réel

Ganz anders dagegen das hinreissende Quarantänetagebuch der chinesischen Regisseurin Weijia Ma, die nach einem Job in Frankreich nach Shanghai zurückfliegt – auch sie trägt während des Fluges wie die meisten Schutzanzug, Maske und Taucherbrille – und dort für 14 Tage in einem Hotel in Quarantäne gesteckt wird.

«My Quarantine Bear» zeigt Weijia Ma zwei Wochen lang bei der kreativen Selbstbespassung auf wenigen Quadratmetern, wie sie mit zwei Hemden eine Stop-Motion-Liebesgeschichte dreht und nach über zehn Tagen von Hotelzimmertür zu Hotelzimmertür mit einem Flur dazwischen ein Duett mit einem Quarantänenachbarn singt. Der 35-minütige Kurzfilm konzentriert sich auf das Schutzschild aus Surrealitäten, mit dem sich Weijia Ma von der Gefährlichkeit der Lage abschirmt. Im Ergebnis ist das eine total sympathische und zutiefst unsentimentale Strategie.

My Quarantine Bear
Weijia Mas Quarantäne-Bär.Bild: Visions du Réel

Denn natürlich lässt sich Corona auch sentimental einfangen, das zeigt Andrea Segre in seinem Venedig-Panorama «Molecole» («Molecules»). Wobei Venedig nichts dafür kann, denn Venedig ist einfach Venedig. Eine Stadt, die gelegentliche Leere kennt. Normalerweise wegen der Hochwasser, jetzt wegen Corona. Was die Einheimischen dem Hochwasser deutlich vorziehen, denn jetzt können die Fischer ungestört fischen und die Gondeln verlassen die Innenstadtkanäle und durchkreuzen die Lagune, in der sie normalerweise kentern würden, weil der Wellengang wegen der Kreuzfahrtschiffe und Vaporetti zu gewaltig für die schmalen Holzboote ist.

Molecules
Elena beherrscht wie schon ihr Vater und ihre Mutter die Kunst des Gondelfahrens perfekt. Bild: Visions du Réel

Und so erlebt man, wie die (wenigen) Einheimischen begeistert sind von ihrer Stadt, die sonst eher einem Touristen-Resort gleicht. Und wie die Leere gar nicht so leer ist und auch nicht besonders melancholisch, sondern bei aller Krise auch eine Bereicherung. Das Problem von «Molecole» ist, dass der Regisseur noch eine Geschichte mit seinem Vater drüberlegt, die aber zu keiner Auflösung gelangt, sondern in rätselhaften Andeutungen wie Nebel über den Kanälen schwebt. Aber egal, der Film porträtiert ansonsten interessante, zupackende Menschen, mit denen man auf dem nächsten Venedigtrip zu gern ein Bier trinken würde.

Trailer zu «Molecole»

Gemeinsam ist den vier hier vorgeschlagenen Filmen, dass sie Corona ganz ohne Klage und Selbstmitleid begegnen und auch nicht um Betroffenheit heischen. Sie legen bloss eine Fährte durch unsere Gegenwart und unsere jüngste Geschichte. Die Welt mag äusserlich still stehen, aber die Menschen, die gezeigt werden, tun es nicht. Die leben. Unter erschwerten Umständen, doch sie tun alles, damit sie und andere überleben. Das macht Eindruck. Und Mut. Und verleiht bei allem mal absurden, mal existenziellen Irrsinn ein Gefühl von Respekt und Gelassenheit.

«Searchers» ist vom 17. bis 20. April zu sehen.
«Io Resto» vom 23. bis 26. April.
«My Quarantine Bear» vom 21. bis 24. April.
«Molecole» vom 18. bis 21. April.

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quelle: ap / claudio furlan
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