An Nidwalden denkt man derzeit häufig, wenn man die Debatte über das institutionelle Abkommen (InstA) mit der Europäischen Union verfolgt. Gemeint ist nicht der heutige Halbkanton in der Zentralschweiz, sondern das Nidwalden des Jahres 1798. Damals waren französische Truppen ins Land einmarschiert. Sie fegten die Alte Eidgenossenschaft hinweg.
Die meisten «Orte» ergaben sich mit der Zeit in ihr Schicksal. Sie akzeptierten die neue Helvetische Republik und ihre durch die französische Revolution inspirierte Verfassung. Nur die Nidwaldner leisteten erbitterten Widerstand, aufgehetzt durch katholische Geistliche, die von der Kanzel gegen die Religionsfreiheit wüteten, die in der Verfassung verankert war.
Die Nidwaldner griffen zu den Waffen und lieferten sich blutige Gefechte mit den Franzosen. Deren Rache war grausam. Mehr als 400 Menschen starben, rund fünf Prozent der damaligen Nidwaldner Bevölkerung. Dörfer wurden verwüstet, etliche Frauen vergewaltigt. Das Elend erweckte sogar bei den Siegern Mitleid und Hilfsbereitschaft.
Der Kampf der Nidwaldner war vollkommen sinnlos und kontraproduktiv. Dennoch wurde er bis in die jüngere Vergangenheit als heldenhafter Akt des Widerstands glorifiziert. Seither hat die Schweiz wiederholt bewiesen, dass sie nichts gelernt hat. Sie liess sich immer wieder auf Scharmützel ein, bei denen die Niederlage programmiert war.
Beispiele aus der jüngeren Geschichte sind die Kontroverse um die Konten von Holocaust-Opfern auf Schweizer Banken, der Fluglärmstreit mit Deutschland oder das Bankgeheimnis. Stets empörte sich die Schweiz über die Angriffe aus dem Ausland. Sie mobilisierte den patriotischen Widerstand, um am Ende auf der ganzen Linie zu verlieren.
Die Beispiele zeigen, dass es mit unsere Weltoffenheit nicht weit her ist. Wir sind ein stark globalisiertes Land, unsere Wirtschaftsführer bewegen sich polyglott auf dem internationalen Parkett, wir reisen gerne und viel. Dennoch kultivieren wir einen verhängnisvollen Hang zur Nabelschau und sind notorisch unfähig, internationale Entwicklungen zu antizipieren.
Wie einst die Nidwaldner rennen wir voll in den Hammer. Und machen weiter, als wäre nichts gewesen. Deshalb droht bei Rahmenabkommen mit der EU ein ähnliches Szenario. Einmal mehr glauben zu viele, wir könnten uns auf eine Kraftprobe mit einem stärkeren Gegner einlassen. Und haben das Gefühl, es gäbe etwas zu gewinnen.
Die Debatte über den Rahmenvertrag hat einen Grad an Absurdität erreicht, der für rational denkende Menschen schwer nachvollziehbar ist. Vernünftige Argumente sind kaum auszumachen. Es dominieren Wunschdenken, plumpe Kraftmeiereien und inhaltsleere Schlagworte, etwa die Behauptung, das InstA sei in einer Volksabstimmung «chancenlos».
Kein Wunder, dass viele gereizt auf die am Wochenende veröffentlichte GFS-Umfrage im Auftrag des Verbands Interpharma reagierten. Sie ergab, dass 64 Prozent der Befragten den Rahmenvertrag sicher oder eher annehmen wollen. Die Kritik zielte auf den Urheber. Tatsächlich gehört die Pharmabranche zu den lautesten Befürwortern des Abkommens.
Die suggestive Fragestellung wurde ebenfalls bemängelt. Dennoch ist die Umfrage ein guter Indikator. Sie zeigt, dass die Bevölkerung die Thematik womöglich pragmatischer beurteilt als viele Akteure in Medien und Politik. Und zumindest ahnt, dass unser bilaterales Verhältnis mit der EU nur mit dem Rahmenabkommen abgesichert werden kann.
«Eine sozialdemokratische Position kann deshalb nur sein: Wir wollen nicht weniger Europa, sondern mehr Europa. Aber eben auch ganz entschieden anders.»
— SP Schweiz (@spschweiz) May 8, 2021
Plädoyer von @cedricwermuth an der #spdv für ein sozialeres Europa 🌹 pic.twitter.com/8gRIhmMKJc
Für die Verlässlichkeit der Ergebnisse spricht, dass die Zahl der Befragten, die sicher Ja sagen wollen, gegenüber früheren Jahren abgenommen hat. Und der Vertrag bei der FDP-Basis an Rückhalt verloren hat. Die Debatte hat durchaus Spuren hinterlassen. Keine Überraschung ist auch die deutliche Zustimmung bei der SP-Wählerschaft.
Sie ist häufig in der «geschützten Werkstatt» namens Staat oder in angrenzenden Betrieben beschäftigt und kennt Lohndumping nur vom Hörensagen. Und sie hat wenig Verständnis für die Nähe ihrer Partei zu Exponenten wie dem Zuger Milliardär Alfred Gantner, der sich in Interviews gerne sozial gibt, aber womöglich ein neoliberaler «Wolf im Schafspelz» ist.
Für die SP, die sich beim Lohnschutz eingebunkert hat, ist dies peinlich. Die Folgen konnte man am letzten Samstag an der digitalen Delegiertenversammlung erleben. Co-Präsident Cédric Wermuth vollführte einen Spagat, der einer Giulia Steingruber würdig war. Erst lobte er die EU in den höchsten Tönen, dann verdammte er sie in Bausch und Bogen.
Bei dieser Dialektik hapert es jedoch mit der Synthese. So schlägt Wermuth zur Rettung des Vertrags vor, die Schweiz könne die Unionsbürgerrichtlinie vollständig übernehmen, wenn die EU die flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping respektiert. Eine Anhebung der Kohäsionszahlungen nach norwegischem Vorbild kommt für ihn auch in Frage.
Man fragt sich, wie der Aargauer dafür eine Mehrheit herbeizaubern will. Und warum die EU einem solchen Kuhhandel zustimmen soll. Für sie geht es ums Prinzip. Wenn die Schweiz als Nichtmitglied am EU-Binnenmarkt teilnehmen will, muss sie die dort geltenden Regeln akzeptieren, bekräftigten die Europa-Minister der 27 Mitgliedsstaaten am Dienstag.
Man muss Cédric Wermuth zugute halten, dass er bei weitem nicht der einzige ist, der bei möglichen Alternativen zum vorliegenden Vertragsentwurf wenig Realitätssinn an den Tag legt. Die von der FDP propagierte «Fitnesskur» für die Schweizer Wirtschaft bezeichnete sogar die NZZ als Illusion, und die ist solchen Ideen sonst sehr gewogen.
Die meisten Alternativvorschläge von Gegnern des Rahmenvertrags sind Luftschlösser ohne Fundament. Sie basieren auf der bizarren Vorstellung, dass die EU uns jeden Wunsch von den Lippen ablesen wird, nachdem wir sie brüskiert haben. Andere Ideen wie ein erweitertes Freihandelsabkommen wecken starke Zweifel an der Umsetzbarkeit.
Vollends am Kopf kratzt man sich bei den Vorschlägen, wie man bei der EU nach einem Scheitern für Goodwill sorgen könnte. Die Schweiz solle die blockierte Kohäsionsmilliarde freigeben, wird etwa gefordert. Zur Erinnerung: Als Bedingung dafür verlangt das Parlament, dass die EU unsere Börsenregulierung anerkennt. Das spielt jetzt offenbar keine Rolle mehr.
Andere schlagen vor, die Schweiz solle freiwillig und einseitig EU-Recht übernehmen. Oder die Kompromissvorschläge bei Lohnschutz und Unionsbürgerrichtlinie in vorauseilendem Gehorsam umsetzen. Sie soll also ihre besten Karten einfach wegwerfen. Eine solche «Strategie» wäre kein Zeichen von Stärke, sondern von eklatanter Schwäche.
In Bern zumindest scheint man dies erkannt zu haben. Durch die vielen undichten Stellen im Umfeld des Bundesrats ist bislang kein brauchbarer Plan B nach draussen gedrungen. Es wird erwartet, dass er in einer der nächsten Sitzungen die Verhandlungen für beendet und das Rahmenabkommen für gescheitert erklären wird. Das aber ist Spekulation.
Mindestens so wahrscheinlich ist, dass er vor dem ultimativen Aus zurückschrecken und versuchen wird, mit Brüssel «im Gespräch» zu bleiben. Den Rückhalt der Kantone hätte er. Sie forderten den Bundesrat am Dienstag auf, alles zu unternehmen, um «eine Negativspirale zu verhindern». Daraus spricht letztlich eine tiefe Ratlosigkeit.
Die EU wird nicht wie einst die Franzosen mit der Armee in die Schweiz einmarschieren. Sie tut sich schon schwer damit, eine gemeinsame Verteidigungspolitik zu entwickeln. Es ist auch nicht nötig. Sie kann abwarten und zuschauen, wie sich die Schweiz auf der Suche nach einer Alternative zum institutionellen Abkommen im Dickicht verheddert.
Nein, das Rahmenabkommen ist nicht «chancenlos». Und jene, die sich inbrünstig als «weltoffen» bezeichnen, sind oft die grössten Ignoranten in Sachen Aussenpolitik. Vielleicht schaffen wir es irgendwann, den verhängnisvollen Nidwalden-Reflex zu überwinden. Die Frage ist nur, wie oft wir bis dann noch auf die Nase fallen müssen.
Gefördert von der SVP/den Konservativen und ihrer schönfärberischen Sicht auf die Schweizer Geschichte, betrachten sich viele Schweizer immer noch als kleine wehrhafte Eidgenossen.
Was mich aber erschroken hat:
Durch die vielen undichten Stellen im Umfeld des Bundesrats
Im Umfeld des BR, soll und darf es keine undichten Stellen geben. Wie soll man den verhandeln, wenn laufend interna an die Presse oder Andere interessierte Stellen weitergegeben werden.
Aufräumen aber sofort!