Das Heilige Römische Reich wurde Mitte des 10. Jahrhunderts gegründet und dauerte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, als ihm Napoleon ein jähes Ende bereitete. Wie ein Lästermaul einst bemerkte, war es weder heilig noch römisch und schon gar kein Reich. Es war vielmehr ein loser Zusammenschluss der europäischen Länder. Aber es besass einen Kaiser, sofern dieser den Segen des Papstes erhalten hatte.
Im weitesten Sinne des Wortes kann man das Heilige Römische Reich als eine Art mittelalterlichen Vorläufer der Europäischen Union bezeichnen. Nur kennt die EU keinen Kaiser. Sie hat jedoch eine Ratspräsidentschaft. Diese dauert sechs Monate und wird im Turnus jeweils von einem Mitgliedstaat ausgeübt.
Bis Ende Jahr wird Deutschland die Ratspräsidentschaft innehaben, und es ist denkbar, dass es eine historische sein könnte. Aber der Reihe nach:
Der «Economist» beschreibt die angestammte Rolle der Deutschen in der EU wie folgt:
Die Coronakrise hat dies radikal geändert. Deutschland hat die Krise bisher nicht nur sehr gut gemeistert. Dank seiner potenten Wirtschaft ist es einmal mehr die Konjunktur-Lokomotive Europas geworden. Damit ist auch Schluss mit dem diskreten Machtanspruch. Nochmals der «Economist»:
Die Wahrnehmung der Kanzlerin hat in den letzten Monaten ebenfalls einen radikalen Wandel erfahren. Galt sie zu Beginn des Jahres als «lahme Ente», die sich mühsam ans Ende ihrer Amtszeit schleppt, ist sie nun wieder zur mächtigsten Frau Europas geworden. Dank ihrer Geduld und ihrem Pragmatismus gilt sie als fester Fels in der Corona-Brandung.
Höchstens die «NZZ» faselt heute noch von einer «Merkeldämmerung». Der «Economist» hingegen hält fest:
Deutschland will. Das Land hat in den letzten Wochen eine erstaunliche Wandlung durchgemacht. Europas Geizhälse und Austeritätszuchtmeister sind quasi über Nacht umsichtige und verantwortungsbewusste Politiker geworden. Zusammen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat Merkel einen europäischen Hilfsfonds in der Höhe von 500 Milliarden Euro angestossen.
Inzwischen hat Ursula von der Leyen, die deutsche Präsidentin der Europäischen Kommission, diesen Fonds auf 750 Milliarden Euro aufgestockt. Das Geld soll dabei je nach Corona-Betroffenheit und Grösse auf die einzelnen Länder verteilt werden, nicht als Darlehen, sondern als Zuwendung. Und das Geld für diesen Fonds soll mit Anleihen aufgenommen werden, für welche die EU-Staaten gemeinsam haften.
Nebst der Coronakrise sind es zwei weitere Schocks, die zu diesem Umdenken geführt haben. Donald Trump hat ein für allemal die Illusion zerstört, die EU könne bis in alle Ewigkeiten im militärischen und politischen Windschatten der USA segeln. Will Europa nicht zu einem geopolitischen Witz werden, muss es auf eigenen Füssen stehen. Das geht schlecht, wenn man sich ständig zankt.
Ein Urteil des Verfassungsgerichts hat Berlin ebenfalls aufgerüttelt. Die Richter in den roten Roben haben dekretiert, dass die Europäische Zentralbank (EZB) der Deutschen Bundesbank neue Unterlagen liefern muss, die ihre Geldpolitik rechtfertigen. Dieses Urteil hat das Potenzial, zu einem gefährlichen Spaltpilz der EU zu werden. Es könnte nämlich den Europäischen Gerichtshof gegen das oberste deutsche Gericht ausspielen.
Inzwischen scheint man diese Gefahr erkannt und im Griff zu haben. Die «Financial Times» meldet, dass der deutsche Finanzminister Olaf Scholz im Begriff ist, die Wogen zu glätten. Er lässt durchblicken, die EZB habe die entsprechenden Dokumente geliefert.
Emmanuel Macron drängt seit Beginn seiner Amtszeit darauf, die EU unter deutsch-französischer Führung stärker zu einen. Lange Zeit wurde er von der Kanzlerin auf Distanz gehalten und mit unverbindlichen Versprechen abgespeist. Nun sind die beiden ein Herz und eine Seele und fest entschlossen, den Hilfsfonds Realität werden zu lassen.
Dabei müssen sie jedoch noch einige Steine aus dem Weg räumen. Die «sparsamen (oder geizigen) Vier» – die Niederlande, Dänemark, Schweden und Österreich – leisten bisher noch hartnäckigen Widerstand. Sie wollen vor allem, dass das Geld aus dem Fonds nicht in Form von nicht zurückbezahlbaren Zuwendungen fliesst, sondern als Darlehen.
Am 17. und 18. Juli treffen sich die EU-Staatsoberhäupter zum Sondergipfel. Dort wird die Macht von Kaiserin Merkel ihren Härtetest bestehen müssen. «Wir haben die Stunde der Wahrheit für Europa erreicht», sagt Macron. «Dank dem resoluten deutsch-französischen Engagement können wir einen Erfolg erzielen.»
Deutschland und die Welt haben ihr viel zu verdanken.