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Coronavirus

Coronavirus: Fünf Betroffene erzählen von ihren Verlusten

«Mein Vater starb nicht mit, sondern an Corona» – 5 Schicksale hinter der Todes-Zahl

Der Tod wird in der Pandemie zu einer abstrakten Grösse. Hier erhält er ein Gesicht: Fünf Menschen, fünf Geschichten, eine Todesursache.
25.11.2020, 05:37
Andreas Maurer, Pascal Ritter / ch media
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Werner Keckeis, 66, mit seiner Enkeltochter.
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Das Bundesamt für Gesundheit vermeldete am Dienstag den Tod von 142 Coronakranken. Damit steigt die Zahl der Menschen, die im Zusammenhang mit der Seuche gestorben sind, auf 3930. Es ist eine hohe Zahl, und trotzdem bleibt sie abstrakt, solange man die Geschichten dieser Toten nicht kennt.

Wer sind die Menschen hinter der Zahl? Wir haben uns auf die Suche nach Angehörigen von Verstorbenen gemacht, die bereit sind, den Coronatod in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Dazu haben wir Todesanzeigen gesammelt, in denen das Coronavirus als Todesursache angegeben wird. In der grossen Mehrheit der Fälle wird die Ursache nicht erwähnt.

Die Gespräche mit den Hinterbliebenen zeigen, dass die Frage in vielen Familien umstritten war: Nennen wir die Todesursache in der Anzeige wirklich beim Namen? Viele, die sich dafür entschieden haben, wollen damit ein Zeichen setzen.

Entstanden ist eine zufällige Sammlung von fünf Nachrufen, die auf Erzählungen von Familienmitgliedern basieren. Die Fotos stammen aus ihren Familienalben.

Die fünf Lebens- und Krankheitsgeschichten passen zur Statistik. Es sind ältere Menschen, vor allem Männer, und die meisten haben Vorerkrankungen. Es sind also solche Fälle, an die man sich in dieser Krise gewöhnt hat. Der Gewöhnungseffekt verfälscht den Blick. Die Biografien zeigen auf, was dieses alltägliche Sterben bedeutet.

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grafik: ch media

Alexandar Tzankov leitet die Autopsie am Basler Universitätsspital und hat die Leichname von zahlreichen Coronatoten untersucht. Bei den allermeisten hat er Vorerkrankungen festgestellt. Ohne Covid-19 hätten aber alle länger gelebt. Deshalb hält er die Unterscheidung, ob jemand mit oder am Virus gestorben sei, für akademisch. Denn: «Wenn ich eine Krebserkrankung habe und noch ein halbes Jahr lebe und mich ein Auto überfährt, dann mindert das ja auch nicht die Schuld des Autofahrers.»

Werner Keckeis, Grabs SG, 22. Januar 1954 bis 8. November 2020

Werner Keckeis' Leben war geprägt von Brüchen. Im österreichischen Vorarlberg, wo er aufwuchs, machte er eine Maurerlehre und übernahm den Steinbruch seines Vaters. Viele Jahre arbeitete er dort als Chef. Dann lernte er in einem Kreativworkshop die Liebe seines Lebens kennen, Moni. Mit ihr begann er in Grabs SG ein neues Leben. Beruflich war das anfangs nicht einfach. «Aber Werner war immer einer, der optimistisch blieb und nicht aufgab», sagt seine Tochter Nora. Er fand Arbeit bei einer Onlineversandfirma.

Vor knapp zwei Jahren wurde er pensioniert. Anfangs fragte sich seine Familie leicht besorgt: «Wie füllt er nun seine Tage?» Er kaufte sich eine Fotokamera und richtete sich eine Holzwerkstatt ein. Für seine einjährige Enkeltochter baute er zum Beispiel einen Spielstall und eine Spielküche. Die Familie sei für ihn immer an erster Stelle gestanden, sagen seine Angehörigen.

Werner Keckeis, 66†, mit seiner Enkeltochter, 1.
Werner Keckeis, 66†, mit seiner Enkeltochter, 1.bild: privat

Deshalb war es für ihn schlimm, dass er und seine Frau während der ersten Coronawelle ihr Enkelkind nicht mehr hüten durften. Er war Diabetiker und hielt sich strikt an die Anweisungen des Bundesamts für Gesundheit.

Trotz aller Vorsicht infizierte sich Ende Oktober die ganze Familie. An einem Montag erhielt er das positive Testresultat. Er hatte anfangs nur leichte Symptome, Kopf- und Gliederschmerzen. Seiner Frau Moni ging es damals viel schlechter. Sie lag über fünf Tage im Bett, während er noch in seiner Werkstatt bastelte. Als es ihr wieder besser ging, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand plötzlich.

Ab Freitag lag er im Bett und wollte nicht mehr essen, was man bei ihm sonst nicht kannte. Dass es Probleme mit seiner Lunge geben würde, zeichnete sich nicht ab. Er atmete normal, aber beim Aufstehen wurde ihm schwindlig. Am Samstagmorgen rief seine Frau die Notfallabteilung im Spital an. Sie schilderte die Situation und betonte, dass ihr Mann an Vorerkrankungen leide.

Die Ärztin am Telefon erklärte, dass er nicht ins Spital kommen solle, solange er keine akute Atemnot habe. Das Spital sei derzeit am Limit. Am Samstagabend ging es ihm noch schlechter. Um ein Uhr morgens alarmierte seine Frau die Ambulanz. Bei der Ankunft im Spital Grabs war der Sauerstoffmangel dann schon derart gross, dass er einen Herzstillstand erlitt. Er konnte reanimiert werden, aber nur noch die Maschinen hielten ihn am Leben. Die Bilder der Computertomografie zeigten, dass das Virus seine Lunge schwer beschädigt hatte.

Die Tochter und der Sohn von Werner Keckeis durften die Intensivstation betreten, um sich zu verabschieden. «Wir mussten ihn sehen, weil wir es nicht glauben konnten. Wir dachten, es müsse ein Missverständnis vorliegen. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass sich sein Zustand so schnell von gesund zu tot verändern konnte», sagt Nora.

Die engsten Angehörigen haben sich im Garten von Werner Keckeis mit einem Seelsorger für eine kleine Feier getroffen, beim Weiher, den er vor 25 Jahren angelegt hat. Die Asche wollen sie erst im nächsten Frühling verstreuen, wenn hoffentlich eine grössere Feier möglich ist.

Ernst Luginbühl, Spreitenbach AG, 18. Mai 1930 bis 31. Oktober 2020

Ernst Luginbühl wuchs in Neuhausen am Rheinfall auf, zusammen mit seiner älteren Schwester und seinen beiden jüngeren Brüdern. Sein Vater war Gärtner im Schloss Laufen, die Mutter Hausfrau. In der Pfadi lernte er Knoten knüpfen und Feuer machen. Von dieser Zeit sprach «Trick», wie Ernst Luginbühl in der Pfadi hiess, noch bis an sein Lebensende.

Sein Traumberuf war Lokomotivführer. Dafür zog er nach der Mechanikerlehre bei der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft SIG in Schaffhausen nach Zürich. Dort lernte er ab 1956 nicht nur, eine Dampflok zu steuern, sondern auch seine spätere Ehefrau Edith Meier kennen. Sie war Damenschneiderin und wohnte gleich im Haus nebenan. Sie verliebten sich, heirateten, bezogen eine Wohnung im Hardturm-Quartier und zügelten später in den Kreis 4.

Ernst Luginbühl, 90†, auf seinem Balkon in Spreitenbach AG.
Ernst Luginbühl, 90†, auf seinem Balkon in Spreitenbach AG.bild: privat

40 Jahre lang arbeitete Ernst Luginbühl für die SBB. Er fuhr Güter- und Personenzüge von St.Gallen bis Genf und von Basel bis Chiasso. Seine Tochter Monika Gross-Luginbühl, geboren 1960, erinnert sich, wie ihr Vater mitten in der Nacht zur Frühschicht aufbrach. Im Sommer mit dem Töff, im Winter zu Fuss. «Er ging immer gerne zur Arbeit, auch wenn er an Weihnachten oder Silvester Schichten hatte», sagt sie. Die Nachbarskinder hätten sie und ihren Bruder beneidet. Weil die Bescherung jeweils erst am Morgen des 25. Dezembers - hinter Jalousien - stattfand, konnten sie anschliessend direkt mit den Geschenken spielen.

Ernst Luginbühl liebte Tiere, zog einen Wellensittich auf und kümmerte sich um Hasen und Meerschweinchen der Tochter Monika. Später bastelte er mit seinen beiden Enkelinnen oder fuhr mit ihnen in die Ferien.

Nach der Pensionierung zogen Ernst und Edith nach Spreitenbach AG. Monika und Schwiegersohn Christian kamen oft sonntags zum Jassen. Ernst Luginbühl ging mit dem Mischling Bobby, dem Hund von Tochter Monika, spazieren und hütete ihn oft. Bobby und Ernst waren unzertrennlich.

2016 erlitt Ehefrau Edith einen Schlaganfall und lebte fortan im Alters- und Pflegeheim Im Brühl in Spreitenbach. Ernst Luginbühl besuchte sie dort jeden Tag. Als im Frühling das Virus Besuche verunmöglichte, telefonierten sie. «Mein Vater nahm Corona sehr ernst», sagt Monika Gross. Sie hielten Abstand, und die Tochter kaufte für den Vater ein.

Im August stürzte Ernst wiederholt in der eigenen Wohnung, quetschte sich Rippen. Gleichzeitig wurde ein Doppelzimmer im Pflegeheim frei, also zog er ein. Mitte Oktober konnte die Familie noch den 85. Geburtstag von Edith Luginbühl feiern. Ab dem 19. Oktober waren Besuche dann wieder verboten. Dennoch verbreitete sich das Virus im Heim und befiel beide Eheleute. Sie wurden am 24. Oktober positiv getestet. Edith hustete nur leicht, Ernst traf es schwerer. Das Atmen bereitete ihm Mühe, er wurde ins Kantonsspital Baden verlegt, wo er aufgrund der Medikamente mehrheitlich schlief.

Die Ärzte sagten, er sei mit seinen 90 Jahren zu schwach für eine künstliche Beatmung. Er bekam etwas gegen die Schmerzen. Sein Sohn Peter war bis zum Schluss bei ihm, sprach ihm zu und spielte Musik, die Ernst Luginbühl mochte. Am 31. Oktober starb er.

Edith erholte sich. Besonders bitter war für sie: Sie konnte ihm nur noch zuwinken, als die Sanitäter ihn ins Spital brachten. Am Spitalbett Abschied nehmen durfte sie nicht. Die Nachricht vom Tod ihres Lebensgefährten erfuhr sie am Telefon von Sohn Peter. Von ihrem Fenster aus sieht sie die Bäume des Friedhofs, wo ihr Ernst nun liegt.

Wütend sei sie nicht, aber traurig, sagt Tochter Monika Gross. Doch etwas wütend schon, wenn Menschen die Krankheit verharmlosten. «Mein Vater hätte noch Zeit gehabt. Er war noch lebensfroh. Er ist nicht mit dem Virus, sondern an ihm gestorben.»

Rosmarie Rupp, Münchenbuchsee BE, 16. August 1936 bis 1. November 2020

An festlichen Anlässen trug Rosmarie Rupp-Blumer ihre Glarnertracht, zum Beispiel an ihrem Geburtstag oder am 1. August, an dem das Bild (oben) entstand. Sie sei eine richtige Dame gewesen, pflegte man über sie zu sagen, und meinte damit, dass sie sich bis ins hohe Alter frisierte, auf eine elegante Erscheinung achtete und stets freundlich und hilfsbereit war.

Rosmarie Rupp, 84†, in ihrer Tracht am Brienzersee.
Rosmarie Rupp, 84†, in ihrer Tracht am Brienzersee.bild: privat

Auf dem Foto steht sie im Garten des Ferienhauses ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns am Brienzersee, in dem sie auch bei kühlen Temperaturen täglich schwimmen ging. Zweimal war sie Ostschweizer Juniormeisterin im Brustschwimmen. Die zweite Siegerehrung wurde ihr allerdings zum Verhängnis. Sie musste dabei ewig in nassen Badkleidern warten, wobei sie sich eine Nierenentzündung holte und später eine Niere verlor.

Sie liess sich als Krankenschwester ausbilden und arbeitete im Operationssaal. Mit 25 Jahren, als sie Mutter wurde, gab sie den Beruf auf. Den Entscheid habe sie nie bereut, sagt ihre Tochter Beatrice Morger-Rupp. Ihre Mutter habe ihr handwerkliches Talent ausgelebt. Sie bemalte Porzellan und Seide, stellte Teddybären und Sasha-Puppen her, häkelte Überwürfe und bedruckte Batik. Mit ihrem Mann, einem Autoverkäufer, unternahm sie zudem legendäre Reisen, zum Beispiel einen Flug mit der Concorde nach New York und mit dem Kreuzfahrtschiff Queen Elizabeth zurück, wobei sie in einen Orkan gerieten.

Im Ferienhaus am Brienzersee verbrachten Mutter und Tochter während der ersten Coronawelle zwei Monate, weil sie sich beide als Risikopersonen in einer möglichst Covid-freien Zone aufhalten wollten. Während der zweiten Welle war Rosmarie Rupp wieder zu Hause in Münchenbuchsee BE, wo sie sich vermutlich im Hauseingang infizierte.

Sie hatte zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben neben der Nierenoperation schon zwei Krebserkrankungen, einen Herzinfarkt und eine schwere Rückenoperation überstanden. «Das Erschreckende am Virus ist, wie schnell es den Gesundheitszustand meiner Mutter verschlechtert hat. Innert zweieinhalb Wochen wich alle Kraft aus der zuvor sportlichen Frau», sagt Beatrice Morger. Im Spital lag ihre Mutter in einem Einzelzimmer, unterstützt von einem Sauerstoffgerät. Bis zuletzt war sie bei vollem Bewusstsein. Im Spitalbett sagte sie zu ihrer Tochter: «Ich glaube, ich komme nicht mehr heim.» Zusammen besprachen sie, wie die Bestattung ablaufen sollte und was sonst noch alles zu erledigen sei.

Der Tod kündigte sich mit einem Piepsen an. Die Monitore zeigten Herzrhythmusstörungen an. Die Krankenschwestern erhöhten die Morphiumdosis, und Rosmarie Rupp schlief für immer ein.

Ihre Tochter entschied sich, das Coronavirus in der Todesanzeige explizit zu erwähnen: «Ich möchte die Leute aufrütteln. Sie müssen jetzt wirklich aufpassen. Meine Mutter war zwar 84, aber sie hätte noch ein paar schöne Jahre vor sich gehabt.»

Rosmarie Rupps Asche liegt im Rosenbeet des Ferienhauses am Brienzersee neben jener ihres Ehemannes. Kremiert wurde sie mit ihrer Glarnertracht, die sie bei der Aufbahrung ein letztes Mal getragen hatte.

Hans Gremaud, Plaffeien FR, 8. Oktober 1944 bis 8. November 2020

Hans Gremaud hatte keine einfache Kindheit. Er wuchs als jüngstes von sieben Kindern auf, und er verlor seine Mutter, als er sieben Jahre alt war. Nach der Schule fand er keine Lehrstelle, aber Arbeit auf dem Bau. Dabei ruinierte er seine Gesundheit, weshalb er mit 55 Jahren zum IV-Rentner wurde.

Bis zu seiner eigentlichen Pensionierung war er in einer geschützten Werkstatt tätig, in einer Schreinerei. Hier fand er das Glück, und dies gleich doppelt. Er fand eine Arbeit, die er schätzte, und eine Frau, die er liebte. Sie heirateten. Sandra und er ergänzten sich hervorragend, wie ein Angehöriger erzählt. Mit dem Generalabonnement bereisten sie die Schweiz.

Hans Gremaud hatte zwar immer noch gesundheitliche Probleme. Das Atmen bereitete ihm manchmal Mühe. Doch er wusste sich zu helfen. Um seine Lunge zu unterstützen, hatte er zu Hause ein Sauerstoffgerät. Wenn er auf Reisen ging, nahm er das Beatmungsgerät im Rucksack mit.

Hans Gremaud, 76†.
Hans Gremaud, 76†.bild: privat

An einem Sonntag, an Allerheiligen, wurden die Beschwerden plötzlich schlimmer. Er konnte nicht mehr aufstehen. Der Coronatest im Spital fiel positiv aus. Zuerst sah es nicht schlecht aus. Am Mittwoch sprach man im Spital schon über eine Heimkehr. Am Freitag aber verschlechterte sich sein Zustand massiv. Er konnte kaum mehr atmen. Sandra Gremaud hatte ebenfalls Corona und durfte ihn deshalb lange nicht besuchen. Kurz bevor ihre Quarantäne zu Ende ging, erhielt sie aber die Erlaubnis, ihn am Samstag zu besuchen. Im Gegensatz zu ihm erholte sie sich gut. Hans Gremaud sagte zu den Ärzten, er wolle nicht auf der Intensivstation beatmet werden. Am Sonntag nach Allerheiligen starb er an den Folgen der Viruserkrankung.

Karl Albiez, Lengnau AG, 24. April 1941 bis 16. November 2020

Karl Albiez ist in Nussbaumen AG aufgewachsen, als drittjüngstes von acht Kindern. Der Vater war Schuhmacher, und Karl half als Kind mit, die geflickten Schuhe auszuliefern. Das Schuhhaus Albiez existiert noch heute. Später absolvierte er das Lehrerseminar und fand seine erste Stelle in Freienwil AG, wo er alle fünf Primarschulklassen in einem Zimmer unterrichtete.

Karl Albiez, 79†, mit einem seiner Söhne, Timo Albiez.
Karl Albiez, 79†, mit einem seiner Söhne, Timo Albiez.bild: privat

Üblich war, dass der Lehrer auch ein Amt in der Gemeinde übernahm. Albiez dirigierte den Männerchor.

Mit kreativen Ansätzen versuchte er, einen abwechslungsreichen Unterricht aufzubauen. Den Turnunterricht führte er in einer Scheune durch, mit leeren Harassen als Turngeräte.

War er ein strenger Lehrer? Sein Sohn Timo Albiez kennt einige Schüler. Sie hätten von einer «gutmütigen Strenge» berichtet. Das markanteste Fluchwort seines Vaters lautete: Stäcketörri!

Seine Kreativität lebte er unter anderem mit dem Kabarett «Schwäfelsüüri» aus, das sich in den 1970er-Jahren einen Namen in der Kleinkunstszene machte. Bekannt war er auch als Zeichner, Künstler und Maler. Für die «Aargauer Zeitung» illustrierte er die Seite mit den Todesanzeigen mit Bleistiftzeichnungen von Kirchen, Burgen und Schlössern. Persönlich machte er sich vor knapp zwei Jahren Gedanken über den Tod nach einer Hüftoperation.

Obwohl sein Herz angeschlagen war, war der 79-Jährige fast täglich auf seinem Elektrovelo im Surbtal anzutreffen.

Infiziert hatte er sich vermutlich in seinem Männerchor, bevor der Bundesrat das Singen in Gruppen verbot. Zehn Tage war er in Isolation, er war müde, konnte anfangs aber noch gut atmen. Erst am letzten Isolationstag kam die Atemnot. Dann ging es schnell.

Er kam auf die Intensivstation im Kantonsspital Baden und wurde schon am zweiten Tag intubiert, ins Koma versetzt und künstlich beatmet. Seine Frau konnte noch kurz mit ihm telefonieren, aber der Familie blieb keine Zeit mehr für einen Abschied. Nach rund zehn Tagen wollten ihn die Ärzte aus dem Koma zurückholen. Er war aber nicht mehr ansprechbar.

Karl Albiez hatte eine Patientenverfügung, die den Angehörigen den Entscheid abnahm, wie in einer solchen Situation zu handeln sei. Er wurde in eine Isolierstation der allgemeinen Abteilung verlegt, wo die engsten Familienangehörigen ihn unter strengen Schutzbestimmungen eine halbe Stunde pro Tag besuchen durften.

Karl Albiez hatte keine Gelegenheit mehr, das Vorgehen nach seinem Tod mit seiner Familie zu besprechen. Dafür hatte er schon im Vorjahr einige Vorbereitungen getroffen. Er schrieb bereits einen kurzen Lebenslauf und bereitete ein Gedicht für seine Bestattung vor. Es endet mit folgenden Zeilen:

«Mensch, begreif den Lebenssinn, dass ich hier auf Erden bin.

In Gedanken nimm ihn auf, und erkenne seinen Lauf.

Im Gespräch versteh die Not, friedlich Leben – Tod.

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278 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Seiltänzerin
25.11.2020 06:46registriert Mai 2018
Danke für diesen Artikel!

«Wenn ich eine Krebserkrankung habe und noch ein halbes Jahr lebe und mich ein Auto überfährt, dann mindert das ja auch nicht die Schuld des Autofahrers.»
Diese Aussage find ich unglaublich treffend, wer nimmt sich das Recht zu urteilen, wie viel Wert das Leben eines Menschen hat nur weil er bereits an einer anderen Erkrankung leidet.
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MixMasterMike
25.11.2020 06:51registriert Mai 2015
Bewegende Geschichten.
Die Sorglosigkeit einiger Mitmenschen auch in meinem engsten Umfeld macht mich nur noch sprachlos. Ich bezweifle aber, dass sie solche Geschichten lesen (wollen).
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Bärner Gieu
25.11.2020 06:42registriert Januar 2016
Vielen Dank für diese berührenden Geschichten! Hinter jedem Fall steckt ein Schicksal. Das wird zu oft vergessen.
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