Der Skandal um missbräuchliches Verhalten von Trainerinnen und Trainern im Schweizer Turnverband schreckte die Öffentlichkeit im vergangenen Sommer auf und lockte die Politik aus der Reserve. National- und Ständerat forderten einhellig die Schaffung einer Meldestelle für Missstände im Sport.
Sportministerin Viola Amherd machte zusätzlich Druck und verlangte die Umsetzung des Vorhabens bis zum 1. Januar 2022. Ein verwegener Zeitplan, denn Länder wie Australien, Kanada oder Finnland, die ein solches System bereits kennen, benötigten für Ausarbeitung und Aufbau vier bis fünf Jahre.
Der Schweizer Dachverband Swiss Olympics mag im Zusammenhang mit den Vorgängen im Turnsport nicht immer eine glückliche Figur abgegeben haben. Einerseits über eine für alle Sportorganisationen gültige Ethikcharta zu verfügen, andererseits keine wirkliche Handhabe zu haben, wenn diese nicht eingehalten wird.
Tatsächlich aber war sich Swiss Olympic dieser Situation lange vor den Enthüllungen in der Sportgymnastik und dem Kunstturnen durchaus bewusst. Nur wurde der vor acht Jahren erteilte Auftrag an die rund 80 angeschlossenen nationalen Sportverbände, Verhaltenskodex und Meldestelle für die eigene Sportart aufzubauen, nicht überall zufriedenstellend umgesetzt. Das zeigten drei von Swiss Olympic in Auftrag gegebenen externe Analysen im Frühling 2020. Der Weg zu einer sportartenübergreifenden Lösung war also unabhängig von den aktuellen Vorkommnissen längst vorgespurt.
Nun liegt der Plan auf dem Tisch. Bei der Ausarbeitung des Schweizer Modells hielt man sich einerseits an die wenigen bestehenden Lösungen in anderen Ländern und andererseits an Integritätsstrukturen von vorbildlichen Weltsportverbänden wie Leichtathletik oder Biathlon, die ähnliche Lösungen vor kurzem eingeführt haben.
Der konsequent gewählte Ansatz der Unabhängigkeit erhöht die Glaubwürdigkeit und macht den Schweizer Sport in diesem Bereich weltweit führend, wie Experten auf diesem Gebiet bestätigten. Wie bei den vergleichbaren Beispielen will man die Meldestelle für ethische Fragen der bestehenden Struktur von Antidoping Schweiz anschliessen. Der Name der strikt unabhängigen Organisation soll Swiss Sport Integrity lauten.
Bei ihr sollen alle Meldungen über Ethikverstösse zusammenlaufen und von professionellen Experten bearbeitet und triagiert werden. Strafrechtlich relevante Vergehen werden an die Justiz übergeben, bei Missständen oder einer Verletzung der Integrität des Sports eine Untersuchung eröffnet und ein Antrag auf Sanktion gestellt. Ethisch irrelevante Sachverhalte werden abgewiesen oder zur Bearbeitung an den Fachverband weitergeleitet. Die Meldestelle kann zudem provisorische Massnahmen gegen Personen verhängen.
Für die sportjuristische Prüfung dieser Untersuchungsberichte soll eine Disziplinarkammer aus unabhängigen Juristen nach dem bewährten Muster der Disziplinarkammer für Dopingfälle verantwortlich sein.
Sie führt ein Anhörungsverfahren durch, kann Sanktionen aussprechen und verbindliche Empfehlungen abgeben. Denn häufig ist ein Missstand nicht mit der Entfernung von fehlbaren Personen erledigt, es braucht oft strukturelle Änderungen. Die Urteile der Disziplinarkammer können am internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne angefochten werden.
Grosser Vorteil dieser Lösung ist eine einheitliche Sanktionspraxis. Die Verbände werden von der Pflicht entbunden, eigene Meldestellen, Ethikkommissionen und Gerichtsbarkeiten aufzustellen. Viele Verbände sind nicht unglücklich darüber, dass sie diese Verantwortung abgeben und die Ressourcen einsparen können. Unter der Führung von Swiss Olympic sind sie zusammen mit den Ausbildungsstrukturen von Magglingen verantwortlich für den Bereich Prävention.
Das Schweizer Modell geht vor allem punkto Unabhängigkeit weiter als die Vorbilder aus Australien, Kanada und Finnland. Das am 1. Juli 2020 ins Leben gerufene Sport Integrity Australia ist unter dem Einfluss des Staats, das Canadien Centre for Ethics in Sport hat noch keine Sanktionsgewalt und in Finnland wird die Gerichtsbarkeit wieder an die einzelnen Verbände delegiert.
Aus Österreich, Holland oder Norwegen schaut man mit grossem Interesse auf die Schweiz. Auch in diesen Ländern steht der Aufbau von Verhaltenskodexen und Meldestellen im Sport auf der Traktandenliste.
Zunächst muss jetzt der Stiftungsrat von Antidoping Schweiz die neue Struktur absegnen. Unabhängig davon wird den Sportverbänden am Forum von Swiss Olympic am 5. und 6. Mai das neue Ethikreglement vorgestellt und die Vernehmlassung gestartet. Die Schweizer Sportverbände müssen ihre Regularien soweit anpassen, dass sich alle Athleten, Trainer und Funktionäre den neuen Abläufen und der Rechtsprechung unterstellen.
Der frühere Weltklasse-Ruderer und Olympiateilnehmer Stephan Netzle, ein international tätiger Sportjurist und langjähriger Richter am Sportgerichtshof in Lausanne, hat den Entwurf des Reglements auf Mandatsbasis ausgearbeitet. Netzle war in den vergangenen Jahren in mehreren Verbänden bei Aufbau und Einführung von Ethikrichtlinien an vorderster Front involviert.
Bis zur finalen Version wartet noch schwierige und langwierige Detailarbeit auf die juristischen Experten. Verabschiedet werden soll das erste einheitliche Ethikreglement des Schweizer Sports am 26. November vom Sportparlament. (aargauerzeitung.ch)