Es braucht auch als Mann wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass sich kaum eine Frau gerne so präsentiert. In einer Art Badeanzug, eng geschnitten, zeigen Kunstturnerinnen den Spagat und andere Verrenkungen. In Zeitlupe und mit Zoom werden Details der Übungen Frame für Frame in die Welt übertragen.
«Nicht mehr mit mir», sagte sich nun Sarah Voss. Die 21-jährige zweifache deutsche Meisterin am Schwebebalken bestritt ihre Qualifikations-Übung an den Kunstturn-Europameisterschaften in einem Ganzkörperanzug. «Ich fühle mich darin wohl, und es ist super bequem», sagte Voss danach.
Genau darum geht es: Dass sich die Turnerinnen wohl fühlen. Denn wie der deutsche Verband (DTB) festhält, würden kurz geschnittene Turnanzüge bei Mädchen und Frauen zu einem Gefühl des Unwohlseins führen. «Niemand sollte gezwungen werden, sich in einer Sportart aufgrund der Bekleidung unwohl zu fühlen», betonte die Cheftrainerin Ulla Koch.
Verrückt: Das Reglement erlaubt Ganzkörperanzüge schon lange. Doch «aus der Historie heraus» habe sich bei den Frauen der enge Turnanzug etabliert, so der DTB. «In den Strukturen des Turnsports von der Spitzensport- bis zur Breitensportebene wird die Möglichkeit einer langen, engen Hose oder eines langbeinigen Gymnastikanzugs derzeit kaum gelebt.» Es hat bislang also gar niemand daran gedacht, dass es eigentlich auch anders ginge.
Neben Sarah Voss planen mit der deutschen Rekordmeisterin Elisabeth Seitz und mit Kim Bui auch zwei Teamkolleginnen, in Basel mit dem bislang ungewohnten Outfit anzutreten. Die 27-jährige Seitz sagte unlängst im SWR, sie habe früher stets gedacht, dass es ganz normal sei, in einem hautengen, knappen Anzug zu turnen. Doch mittlerweile fühle sie sich darin nicht mehr immer wohl: «Wenn nur minimal was verrutscht, dann sieht jeder mehr, als er sehen sollte.»
Seitz muss auch ausserhalb der Turnhalle dagegen ankämpfen, dass ihr Körper als Sexobjekt missbraucht wird. Denn es gibt sie, die Glüschtler, die sich am Fernsehen und im Internet an der Turnerin aufgeilen. Regelmässig sucht Seitz im Internet nach Fotos von sich und bemüht sich darum, dass anzügliche Bilder gelöscht werden. «Da gibt es einige, die mir überhaupt nicht gefallen, weil mir in den Schritt fotografiert wurde. Aber es ist schwierig, jedem Bild hinterher zu rennen, und wenn es einmal im Internet ist, ist es schwierig, es komplett löschen zu lassen.»
Ihrer Kollegin Sarah Voss brachte der neue Anzug im Übrigen kein Glück. Die Studentin musste in der Qualifikation zwei Mal vom Balken runter und vergab so die Chance auf einen Einzug in den Final, was ihr an der WM 2019 noch gelungen war. Doch auch ohne Medaille ist die deutsche Turnerin schon jetzt eine der grossen Figuren dieser EM in Basel.
Ich glaube nicht, dass dies der Grund ist. Vielmehr wird es hier - wie auch an vielen anderen Orten im Leben - das Hineinsozialisieren sein, das erschwerend auf Veränderung wirkt. Wenn man schon als 8-jährige mit Lippenstift und knappem Gwändli turnt, dann wird die Aufmachung und die Reduzierung auf den Körper normal. Dann braucht es relativ viel, bis man später erkennen kann, dass es nicht normal ist, dass einem in den Schritt fotografiert wird.
Siehe auch etwas ander gelagert im Thema Magglingen...
Ich verstehe die Turnerinnen zu 100% - es hat sich mir NIE erschlossen, wieso diese jungen Frauen in solch knappsten "Kleidchen" turnen sollen.
Gleichzeitig werden aber in Schweizer Badis Muslimas vor die Wahl gestellt, entweder im Badeanzug (der für viele dieser Frauen zuviel enthüllt) oder gar nicht schwimmen zu dürfen, da Burkinis - die nichts anderes sind, als Ganzkörperbadeanzüge - verboten sind!
Same same but different oder Altsprech: Messen mit ungleichen Ellen.