Spannungen rund um die von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim sind nichts Neues. Diese nehmen nun allerdings neue Ausmasse an: Bereits seit einigen Wochen sorgt ein grosser russischer Truppenaufmarsch entlang der ukrainischen Grenze für internationale Besorgnis. Es sei der grösste Truppenaufmarsch seit der Annexion der Halbinsel Krim 2014, erklärte Jens Stoltenberg, Generalsekretär der Nato, am Dienstag am Rande eines Treffens mit dem ukrainischen Aussenminister Dmitri Kuleba in Brüssel. Die Konzentration der Streitkräfte sei «ungerechtfertigt, ungeklärt und zutiefst beunruhigend».
Russland hat der Nato letzte Woche «Hysterie» vorgeworfen und das Militärbündnis zu einem Ende der «aggressiven Kampagne» aufgefordert. Der Westen versuche, Moskau für die Eskalation der Spannungen im Donbass und an der russisch-ukrainischen Grenze verantwortlich zu machen, kritisierte das russische Aussenministerium am Mittwoch.
Zugleich räumte das Ministerium ein, dass es «Massnahmen der russischen Streitkräfte zur Kampfvorbereitung» gebe. Diese gebe es aber planmässig immer zu dieser Jahreszeit. Und sie seien nicht stärker als sonst, betonte Ministeriumssprecherin Maria Sacharowa. «Wir treten für eine Lösung des Konflikts im Donbass ausschliesslich mit friedlichen Mitteln ein.»
Das ukrainische Militär hat Russlands Vorwürfe zu mutmasslichen Vorbereitungen eines Angriffs auf die Separatistengebiete in der Ostukraine zurückgewiesen. Eine Rückeroberung der unter Kontrolle von prorussischen Separatisten stehenden Gebiete führe «unweigerlich zum Tod einer grossen Anzahl an Zivilisten und Verlusten unter Militärdienstleistenden», teilte Armeechef Ruslan Chomtschak am vergangenen Freitag in Kiew mit.
Die Ukraine betonte nun, sie gebe weiterhin einer diplomatischen Lösung des Konflikts den Vorzug. Das Militär sei jedoch bereit, bei einer Eskalation eine «angemessene Antwort» zu geben. Allerdings sagte Chomtschak Ende März in einem Interview auch, Präsident Wolodymyr Selenskyj habe kein Problem damit, den Befehl für eine Offensive zu geben.
Vor dem Hintergrund der verschärften Spannungen hat US-Präsident Joe Biden dem Kremlchef Wladimir Putin ein Gipfeltreffen vorgeschlagen. Biden habe in einem Telefonat mit Putin am Dienstag seine Besorgnis über den plötzlichen Aufbau der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze und auf der annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim geäussert, teilte das Weisse Haus mit.
Der US-Präsident habe einen Gipfel in einem Drittland in den kommenden Monaten vorgeschlagen, «um die gesamte Bandbreite der Themen zu erörtern, mit denen die Vereinigten Staaten und Russland konfrontiert sind».
Der Kreml in Moskau bestätigte Bidens Vorschlag, liess aber offen, ob Putin die Einladung annehmen wird. Weiter hiess es in der US-Mitteilung, Biden habe den russischen Präsidenten mit Blick auf die Ukraine aufgefordert, «die Spannungen zu deeskalieren». Er habe ausserdem «das unerschütterliche Engagement der Vereinigten Staaten für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine» betont. Dazu teilte der Kreml mit, dass es für die Lösung des Ukraine-Konflikts den international anerkannten Minsker Friedensplan von 2015 gebe. Russland beklagt, dass die Ukraine ihn nicht erfülle.
Der US-Präsident habe zudem sein Ziel bekräftigt, eine stabile Beziehung mit Russland aufzubauen, hiess es aus Washington. In dem Gespräch sei es ausserdem um die Absicht der USA gegangen, einen strategischen Dialog mit Moskau über Sicherheitsfragen und Rüstungskontrolle zu verfolgen. Putin liess mitteilen, es sei bei dem Telefonat auf Bidens Initiative auch um andere dringliche Probleme gegangen, darunter die Rettung des Atomabkommens mit dem Iran und die Lage in Afghanistan.
Weiter gilt als ausgeschlossen, dass sich die Nato aktiv in den Konflikt einmischt. Grund ist zum einen, dass die Ukraine nur Partnerland und kein Mitglied im Verteidigungsbündnis ist. Zum anderen gelten die Risiken als schwer kalkulierbar. Niemand könne Interesse daran haben, wegen eines Regionalkonflikts einen Dritten Weltkrieg zu riskieren, heisst es von Diplomaten.
Aus dem gleichen Grund gilt auch als ausgeschlossen, dass der Ukraine vor einer Lösung des Konflikts der Nato-Beitritt gewährt wird. Eine solche Entscheidung würde bedeuten, dass die anderen Nato-Staaten bei weiteren Aggressionen Russlands eine Beistandsverpflichtung haben könnten. Offiziell wird dieses Argument aber nicht vorgetragen. Da verweist die Nato auf noch nicht erfüllte Bedingungen, zum Beispiel im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung.
Die Aussen- und Verteidigungsminister der Nato-Staaten wollen an diesem Mittwoch in einer gemeinsamen Videokonferenz unter anderem über die aktuelle Zuspitzung des Ukraine-Konflikts beraten. US-Aussenminister Antony Blinken und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin werden zu den Gesprächen persönlich in der Nato-Zentrale in Brüssel erwartet. (saw/sda/dpa)