Wer meinen Blog schon länger verfolgt, kennt inzwischen mein Ritual: Im Dezember zieht es mich nach Osten, meistens nach Indien. Hier zeigt sich das pralle Leben teilweise noch wie in früheren Zeiten: Die Volksfrömmigkeit ist ungebrochen, der Alltag laut, chaotisch und bunt. Ursprünglich halt. Das Motto: Dem Luxus zu Hause entfliehen und spontan den faszinierenden und gleichzeitig betörenden Subkontinent bereisen.
Die Hotspots in Indien sind die Märkte und Tempel. Vor allem aber die Pilgerorte. Abgesehen von den Grossstädten prägen die Frauen mit ihren bunten Saris immer noch das Strassenbild. Daneben erscheinen die Männer in ihren Strassenkleidern wie graue Mäuse.
Mit einer Ausnahme: Die Sadhus, die Wandermönche, stechen mit ihren orangen Tüchern, Gewändern und Kopfbedeckungen farblich aus der Menge heraus. Das Leben dieser Mönche ist eindrücklich und zeigt, wie stark religiöse Überzeugungen Menschen prägen können.
Die meisten Sadhus glauben an den Gott Shiva und legen das Gelübde ab, sich lebenslang der Askese und der spirituellen Entwicklung zu widmen. Ein kleines Bündelchen ist oft ihr ganzer Besitz. Sie leben mehrheitlich unter freiem Himmel. Viele sind selbst sozial asketisch und wandern als Einzelgänger durchs Leben. Bei den Sesshafteren sind die heiligen Pilgerorte besonders beliebt.
Es gibt wie bei den christlichen Mönchen auch bei den Sadhus verschiedene Orden, die unterschiedliche religiöse Ideen verfolgen und Lebensweisen pflegen. Die Baul etwa dürfen heiraten und eine Familie gründen. Sie ziehen singend durch die Städte und Dörfer und leben von den Spenden.
Die Sadhus der meisten anderen Orden wandern aber umher oder richten sich neben einem Tempel oder in einer Höhle ein. Ihr Tageswerk besteht vornehmlich aus der Lektüre der heiligen Schriften, der Meditation und dem erbaulichen Nichtstun. Es gibt aber auch Sadhus, die in Gemeinschaften leben und gemeinnützige Arbeit leisten.
Besonders harte Burschen sind die mythenumwoben Aghori. Sie streichen sich gern mit der Asche von Kremierten ein, trinken Urin aus Totenschädeln und sollen bei Gelegenheit Menschenfleisch essen, wenn sie auf einen verstorbenen Obdachlosen treffen. Diese absonderlichen Rituale, die kaum religiös erklärbar sind, sollen der Abhärtung dienen.
Sehr weltlich geben sich die Nagas, quasi der Orden der Krieger. Sie kämpften früher gegen die Muslime, die Hindutempel zerstörten. Heute leben sie friedlich, tragen aber immer noch ein Schwert oder einen Speer mit sich herum.
Am Ursprung des asketischen und zölibatären Lebens steht ein hinduistisches Dogma. Mit der totalen Enthaltsamkeit wollen sie verhindern, «sündig» zu werden. Im hinduistischen Bewusstsein bedeutet dies, keine karmische Belastung auf sich zu laden. Denn wer sich dem Irdischen entsagt, kennt keine Gier und keinen Geltungsdrang. Somit belastet er sein Karma nicht. Die Sadhus versuchen gewissermassen, das Ich aufzulösen.
Ein einigermassen unbelastetes Karma ist nämlich die Voraussetzung, um aus dem Wiedergeburtszyklus auszubrechen und erlöst zu werden. Mit ihrem asketischen Leben versuchen die Mönche, Einheit mit Gott zu erlangen.
Die religiösen Anforderungen sind derart radikal, dass sie der menschlichen Natur widersprechen und letztlich unerfüllbar sind. So beobachtete ich vor ein paar Tagen mehrere Sadhus beim Jyotirlinga-Temple in Somnath im Süden von Gujarat, die sich mehr dem schnöden Mammon denn der spirituellen Erbauung widmeten. Sie sassen beim Tempel und streckten den Pilgern fast den lieben langen Tag die Hände entgegen und hofften, ein paar Rupees zu ergattern.
Von mir als einer der seltenen weissen Touristen erhofften sie sich die grosse Spende, was sie unüberhörbar zum Ausdruck brachten. Zeigte ich angesichts der vielen Bettler und Mönche kein Einsehen oder hatte schon alles Kleingeld verschenkt, konnten sie schon mal tüchtig keifen.
Um sich zu kasteien und die Askese auf die Spitze zu treiben, liegen manche Sadhus jahrelang auf einem Nagelbrett oder stehen Tag und Nacht auf einem Bein. Um schlafen zu können, spannen sie ein Tuch, an das sie anlehnen können. Dass manche wetteifern, den Rekord im «Einbeinstehen» zu brechen, mutet kurios und eher weltlich an.
Solche Mönche erlebte ich bei einer früheren Reise in der Stadt Nasik. Die Sadhus wirkten weder verhärmt noch vergeistigt. Sie sprachen gut Englisch und erzählten mir lustige Geschichten.
Vielleicht lag ihre gute Laune auch daran, dass sie schon am Morgen eine gehörige Dosis Opium inhaliert hatten. Sie machten auch kein Geheimnis daraus, dass sie regelmässig Drogen konsumieren. Das Opium würde ihnen helfen, sich zu konzentrieren und sich geistig noch besser zu versenken, rechtfertigten sie ihre irdischen Höhenflüge.
Beim Abschied erbaten sich die spirituellen Junkies einen Obolus. Als ich ihnen eine Note überreichte, für die ein Arbeiter ein paar Tage hätte arbeiten müssen, gaben sie mir mit Nachdruck zu verstehen, dass dies eher schäbig sei. Offenbar ist Opium auch in Indien nicht ganz billig.
Manche Sadhus sehen sich als Gurus und stehen in der ungeschriebenen Hierarchie weit oben. So erlebte ich letztes Jahr in Varanasi einen beleibten, mit Asche eingestrichenen Sadhu, der tagelang auf seiner Holzpritsche lag und andere herumkommandierte.
Er war sich selbst zu schade, die paar Treppenstufen zum Ganges zu nehmen und seine Trinkflasche mit dem heiligen (mit Schwermetallen und versenkten Leichen verseuchtes) Wasser zu füllen.
So schlagen sich auf dem indischen Subkontinent mehrere Millionen Sadhus durch ein entbehrungsreiches Leben und hoffen, nach dem Tod erlöst zu werden, was vermutlich eine Illusion ist.
Fazit: Der Aberglaube kann ganz schön fantasievoll, bunt und anstrengend sein.
Faszinierend und gleichzeitig betörend? Nicht eher "verstörend"?
Daneben danke für den Bericht über diese "Paradiesvögel".