Die conventional wisdom schwankt wie Schilf im Wind. Vor zwei Wochen noch galt der Wahlausgang vom kommenden Dienstag als sichere Sache. Trump verliert, Biden gewinnt. Leo Briones, ein Wahlkampfstratege aus Kalifornien, glaubte zu jenem Zeitpunkt, Trumps Chancen seien nahezu null: «Biden wird 273 Elektorenstimmen machen, und er könnte auf 400 kommen.» Nötig sind 270.
Die Umfragen weisen immer noch in diese Richtung, auch in den umkämpften Bundesstaaten, auf die es ankommt. Aber die Lücke schliesst sich, manche Umfragewerte liegen innerhalb der Ungenauigkeitsmarge, und die aussergewöhnliche Mobilisierung macht den Wahlausgang zum Kopf-an-Kopf-Rennen. Sagt die conventional wisdom jetzt.
Trump – «conventional wisdom» – kann auf die Nicht-so-gut-Gebildeten, die Gottesfürchtigen und die Weissen zählen. Biden hat mehrheitlich die vom Staat Abhängigen, die College-Diplomierten, die Linken und die Farbigen in der Tasche. Aber auch dieses Bild erhält Risse. Soeben hat eine Umfrageanalyse der «New York Times» ergeben, dass Biden bei der weissen Wählerschaft vorwärts macht (den Frauen) und Trump bei der «farbigen».
Der Caudillo steht gemäss Umfragen bei schwarzen Wählern besser da als vor vier Jahren (der Rap-Millionär 50 Cents und einige mindere Kaliber des Genres unterstützen ihn, weil sie die Steuererhöhungen für die 400’000-plus-Einkommensklasse scheuen).
Insbesondere bei der spanisch sprechenden Wählerschaft steht Trump gut da, vor allem in Florida. Beide Lager fahren dort schwerstes Wahlkampfgeschütz auf. Am Donnerstag traten sowohl Trump als auch Biden in Tampa auf – Trump an einem Rally vor Tausenden (Biden: «superspreader event»), Biden an einem «drive-in-rally» (Teilnahme im Auto, mit Maske). Biden kommt bei den Hispanics oder Latinos weniger gut an als Hillary Clinton vor vier Jahren. Er muss kämpfen.
Die Latinos sind eines der ganz grossen Fragezeichen der Wahl. Die Beflissenen sagen Latinics, um Mann und Frau gleich zu stellen. Sie sind die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe in Amerika. Die Mehrheit von ihnen hat das US-Bürger- und Wahlrecht. In diesem Jahr sind erstmals mehr Latinos als Schwarze wahlberechtigt, 32 Millionen, viele davon Jung- und Erstwähler.
Latinos sind längst nicht mehr auf Florida und die Bundesstaaten des Südwestens beschränkt. Sie leben dort, wo der Bedarf an billigen, nicht gewerkschaftlich organisierten und leicht einzuschüchternden Arbeitskräften gross ist: Rund um die Schlachtfabriken des Mittleren Westens zum Beispiel verändern sie die Farbe der politischen Landschaft von tiefrot (Republikaner) Richtung blau (Demokraten). In Staaten wie North Carolina oder Wisconsin, wo Biden und Trump eng beieinander liegen, könnten Latinos den Ausschlag geben. Das Wählerpotential «Latino» gilt als schlafender Riese.
Der Riese schläft seit langem. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts, als Amerikas neue Demographie, der Übergang von der weissen zu einer nicht-weissen, «farbigen» Bevölkerungsmehrheit ins Bewusstsein geriet, sind Latinos als Wählerpotential entdeckt. Alle vier Jahre geistern sie durch das amerikanische Kommentariat. Ist die Wahl vorbei, sind die Latinos kein Thema mehr. Der Riese wird in Ruhe gelassen und schläft weiter.
Zwar sind Latinos auf Schritt und Tritt sichtbar. Die Velokuriere, welche die Pizza bringen, die billigen Gartenarbeiter, die Männer am Früchtestand an der Ecke, die Putzfrauen – sie sind alle Latinos. In der Gesellschaft sind sie omnipräsent. Aber im wirtschaftlichen oder sozialen Leben bleiben sie unter dem Radar. «Wir sind 25 Prozent des Publikums, 4 Prozent der Schauspieler, 2 Prozent der Regisseure und 0 Prozent der Studiodirektoren», sagte der Filmemacher John Leguizamo unlängst in der Bill-Maher-Show über sein Gewerbe.
Latinos sprechen spanisch oder stammen aus spanischsprachigen Familien. Der Rest jedoch ist Vielfalt. Sie oder ihre Vorfahren sind aus Mexiko in den USA gelandet, aus El Salvador, Guatemala, Honduras, Kuba, Kolumbien, Venezuela, Ecuador, Peru. Aber zwischen einem Einwanderer aus Mexiko oder Zentralamerika, der schierer wirtschaftlicher Not entfloh, und einem vom Castro-Kommunismus geprägten Flüchtling aus Kuba liegen Welten. Ganz zu schweigen von denjenigen, deren Familie in Amerika siedelte, bevor der erste Angelsachse Fuss gefasst hatte.
Linda Chavez, einst Mitglied der Reagan-Administration und heute für eine Reform der Einwanderungsgesetze engagiert, erklärte in einer Radiosendung, ihre Vorfahren seien 1601 aus Spanien gekommen und gehörten zu den ersten Siedlern im heutigen Bundesstaat New Mexico: «Wenn Leute mir sagen, ich solle dorthin zurück, woher ich gekommen bin, habe ich etwas Mühe», sagte Chavez zu den Anti-«Ausländer»-Sprüchen, wie sie auch in den USA im Schwange sind. «Ich glaube nicht, dass sie Spanien meinen.»
New Mexico gehört zum grossen amerikanischen Landraub im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg von 1848. In St.Augustine (Florida), mit Gründungsdatum 1656 die älteste europäische Siedlung Nordamerikas, belegt der Nullkilometer des spanischen «trail» nach San Diego, wie viel Land das Amerika der Angelsachsen damals dem Amerika der Spanischsprachigen entriss.
Latinos sind nicht homogen. In vielen «tossup»-Bundesstaaten sind es die Billigarbeitskräfte aus Mittelamerika, welche das Gros der Minderheit ausmachen. Nicht so in Florida (29 von 270 Elektorenstimmen). Hier geben die Exil-Kubaner den Ton an, mit den Exil-Venezolanern im Schlepptau. Sie haben es traditionell mit den Republikanern. «Ich kam aus einem kommunistischen Land und bin Republikanerin», sagt Minnie Alfonso, die 1980 mit sechs Jahren von Castros Insel nach Miami gelangte. «Die Republikaner stehen eher für Freiheit als die Demokraten.»
Jim Stafford, ein Webdesigner in Lake Placid (Florida), sagt dasselbe, mit einer Nuance: «Mein kubanischer Grossvater und unser 90-jähriger Freund Ernesto würden nie für einen Demokraten stimmen, aber wir jüngeren Kubaner sind nicht so. Wir sind in anderen Umständen aufgewachsen und offen für neue Ansätze.» Die Abneigung der Grossväter («Ernesto spuckt noch heute auf den Boden, wenn er den Namen Kennedy hört»), gründet im Fiasko der Schweinebucht-Invasion von 1961, als eine vom US-Geheimdienst geschulte Truppe von Exil-Kubanern von der Regierung Kennedy im Stich gelassen wurde.
Kuba-Amerikaner sind in Florida eine dominante Macht, aber die nicht-kubanischen Latinos ticken anders. Latinos, sagt Wahlkampf-Professional Leo Briones, hätten keine «gemeinsame Philosophie» wie die Schwarzen, sondern verhielten sich «eher wie die Wählerschaften der Einwanderer. Sie sind fast eine Subgruppe der weissen Wählerschaft.» Das wären die Italo-, Irisch-, Polnisch-Amerikaner, die in Küche und Folklore ihre Eigenheiten bewahren, politisch jedoch auf beiden Seiten zugange sind.
Jüngere Wahlergebnisse spiegeln die politische Mehrdeutigkeit. Latinos wählen in ihrer Mehrheit demokratisch, aber nicht alle und nicht immer. Die republikanischen Präsidenten Ronald Reagan aus Kalifornien und George W. Bush aus Texas erhielten deutlich über 40 Prozent der Latino-Stimmen. Trump schaffte vor vier Jahren 29 Prozent – besser als die anderen Republikaner nach Bush.
Heute? In Florida geht der Trend Richtung Republikaner. Trumps hispanischer Anhang ist laut Umfragen nicht nur stabil, sondern gewachsen. Einige zeigen Trump und Biden gleichauf. Auf jeden Fall schneidet Biden schlechter ab als Hillary Clinton vor vier Jahren. Deshalb seine verzweifelten Appelle, bitte doch wählen zu gehen: «Wenn wir Florida gewinnen, ist das Spiel gelaufen», sagte er am Donnerstag. Links ist man in Sorge. Und froh um Bernie Sanders.
Der greise Sozialist aus Vermont wurde im Vorwahlkampf zwar mit vereinten Kräften abserviert, aber jetzt braucht man ihn. Er hatte in seinem Vorwahlkampf hunderttausende junger Latinos hinter sich geschart und massive Latino-Mehrheiten errungen. Der Architekt dieses Erfolgs heisst Chuck Rocha, ein ehemaliger Gewerkschaftsfunktionär und Gründer der Geldsammelmaschine «PAC Nuestro».
Sein Rezept: Auf die Latino-Wähler zugehen, sie ernst nehmen, ihre Sprache sprechen. Die Nähe suchen und es nicht bei dem einen oder anderen Brocken Spanisch in den TV-Auftritten belassen. «Einen Haufen Geld ausgeben, um ins Gespräch darüber zu kommen, was du unternehmen wirst, was deine Vision ist, um Latinos ein besseres Leben zu verschaffen», erklärte Rocha in einer Radiodiskussion. Im Buch «Tio Bernie» («Onkel Bernie») hat Rocha beschrieben, wie er 15 Millionen Dollar einsetzte, um Sanders in sechs Vorwahlstaaten grosse Latino-Mehrheiten zu verschaffen.
Bidens Demokraten versuchen es. Auf den spanischen Radiosendern läuft politische Werbung. Vote! Tienes el derecho de votar! Su voto es segreto, puedes votar libre y sin intimidación. Die Werbung ist ruhig, pädagogisch, eindringlich. Erst am Schluss wird der Absender genannt: «Blue Vote», I’m Joe Biden and I approve this message. Zum Auftakt des Spanish History Month im September trat Biden in Florida mit einer Batterie hispanischer Show-Stars auf, Ricky Martin, Eva Longoria etc. Am Rednerpult zog er sein Telefon aus der Tasche und spielte «Despacito». (Die Trump-Kampagne vertwitterte den Auftritt umgehend mit geänderter Melodie: fuck da police, um Biden als Feind der Polizei zu brandmarken.) Die Rechte deckt die Latinos mit gezielter Desinformation auf Spanisch ein.
Trump? Das traditionelle republikanische Credo (Eigenverantwortung, wenig Staat, viel «Markt») liegt nahe an der Lebenseinstellung vieler Latinos. Roll-up-sleeves tough, nennt es Wahlkampf-Experte Leo Briones – die Vorstellung, dass man sich durch harte Arbeit nach oben arbeiten kann, von einer Generation zur nächsten: «Was generational aspiration betrifft, sind Latinos die positivste Gruppe von allen.» Hinzu kommt Trumps altväterische Mannhaftigkeitspose, der you-can-grab-them-by-the-pussy-Machismo, der der hispanischen Rollentradition – und auch der schwarzen – entgegenkommt.
Und dann die Religion. In ausgewählten Märkten zielt Trumps Wahlkampforganisation auf die religiöse Empfindlichkeit, insbesondere mit dem Abtreibungsverbot («Recht auf Leben»). Die meisten Latinos sind katholisch, und wie in Südamerika sind die fundamentalistisch-evangelischen Sekten am Wachsen. Vor allem aber spielt Trump die rote Karte: «Meine Gegner verkehren mit Kommunisten und Sozialisten», sagte er an seiner Wahlversammlung in Sanford (Florida). «Biden will Amerika in ein sozialistisches Kuba und ein sozialistisches Venezuela verwandeln.»
In Florida sind 20 Prozent der Wählerschaft Latinos, die meisten mit Wurzeln in Kuba und Venezuela. Trumps rotes Gespenst wird hier Wirkung zeitigen. Aber nicht bei allen. «Ich will meinen Mann bei unserem Zoom-Gespräch nicht dabei haben», sagt Minnie Alfonso. «Er ist total für Trump, verblendet. Ich will nicht noch mehr Feuer in meinem Haus.» Minnie, Republikanerin, wird Biden wählen. Nicht weil sie ihn mag, sondern weil er das mindere Übel ist. I don’t like either of the candidates, but the less shitty is Biden. Der Unterschied sei Trumps «Leere», sagt Minnie: «Er kümmert sich um nichts».
Biden-Wählerin Bianca Lemay, mütterlicherseits aus Venezuela, zieht die Parallele zum Sozialismus anders: «Ich habe einen Cousin, der aus Venezuela fliehen musste. Er sagt, Trump mahne ihn an Hugo Chavez. Er sieht Trump als einen neuen Diktator, einen zweiten Chavez.»
Zur allgemeinen Lage, die DEM liegen bei den Polls zu den Kongresswahlen 7-8% vorne, vor 4 Jahren war es 1% (die GOP hat mit 1% gewonnen). Die Grundstimmung ist diesmal anders.