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Brexit: Boris Johnsons grosser No-Deal-Bluff

FILE - In this Thursday, June 27, 2019 file photo Conservative leadership candidate Boris Johnson gives the thumbs at the Wight Shipyard Company at Venture Quay during a visit to the Isle of Wight, En ...
Boris Johnson. Bild: AP
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Brexit: Boris Johnsons grosser No-Deal-Bluff

Unermüdlich droht Boris Johnson der EU mit einem No-Deal-Brexit. Das ist in etwa so, als würde jemand damit drohen, sich selbst zu verletzen. Was steckt dahinter?
19.08.2019, 22:0320.08.2019, 09:01
Stefan Rook / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Brexit bis zum 31. Oktober – «komme, was wolle». Das ist die Doktrin des britischen Premierministers Boris Johnson seit seinem Amtsantritt. Gleichzeitig fordert er eine Neuverhandlung des von Vorgängerin Theresa May ausgehandelten Austritts-Deals, der bereits dreimal vom Parlament abgelehnt wurde.

Dass sich beide Forderungen widersprechen – bis Ende Oktober kann unmöglich ein neuer Brexit-Vertrag ausgearbeitet werden – stört ihn nicht; dass er einen EU-Ausstieg ohne Abkommen aller Voraussicht nach nicht durchs Parlament bekommt, auch nicht.

Zudem hat Johnson unmissverständlich klar gemacht, was er von Verhandlungen mit den anderen EU-Staaten hält: gar nichts. In den ersten Wochen seiner Amtszeit hat er zwar alle vier Teile Grossbritanniens besucht – mit eher mässigem Erfolg. Ein Besuch in Brüssel, Berlin oder Paris? Bisher Fehlanzeige.

Er hat seine Forderungen als rote Linien gestellt. Werden sie nicht erfüllt, dann folgt Ende Oktober der harte Brexit. Sagt er. Und weiss doch ganz genau, dass es dazu höchstwahrscheinlich nicht kommt.

Wem droht Johnson eigentlich?

Doch wem droht Johnson eigentlich mit dem No-Deal-Brexit? Die EU zeigt sich weiter unbeeindruckt und fühlt sich auf einen harten Brexit gut vorbereitet. Es wird immer deutlicher, dass ein Brexit ohne Deal vor allem Grossbritannien schaden würde.

Am Wochenende machte ein Geheimpapier die Runde , das zeigt, wie hart ein No-Deal-Brexit Grossbritannien treffen könnte: Die britische Regierung rechne mit Engpässen bei Lebensmitteln, Benzin und Medikamenten sowie mit steigenden Preisen, berichtete die «Sunday Times» unter Berufung auf das Regierungsdokument.

Michael Gove , für die No-Deal-Brexit-Planungen verantwortliches Regierungsmitglied, schrieb daraufhin auf Twitter, es handele sich sehr wohl um ein Worst-Case-Szenario. Das mag so sein, macht die Warnungen aber nicht weniger dramatisch.

Erreicht hat Johnson in jedem Fall, dass derzeit nahezu alle Beteiligten nur noch über einen No-Deal-Brexit und die damit verbundenen Gefahren reden. Ganz egal, wie unwahrscheinlich ein solches Szenario ist. Und die Wahrscheinlichkeit, dass das eigene Parlament Johnson ausbremst, wird immer grösser.

Johnson wirbt für Nachverhandlungen
Angesichts wachsender Ängste vor einem Chaos-Brexit startet der britische Premierminister Boris Johnson eine diplomatische Offensive. In einem Brief an EU-Ratschef Donald Tusk forderte Johnson am Montagabend offiziell die Streichung der von der EU verlangten Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland.

Anstelle des sogenannten Backstops stellte er andere «Verpflichtungen» Grossbritanniens in Aussicht. Was damit gemeint ist, liess er offen.

Doch lehnt die Europäische Union Nachverhandlungen oder Änderungen am bereits fertigen Brexit-Abkommen strikt ab. Auf Johnsons Brief gab es am Montagabend auf Anfrage zunächst weder von Tusk noch von der EU-Kommission eine Reaktion.

Verbietet ein Gesetz Johnson einen No-Deal-Brexit?

Im Gespräch sind ein Misstrauensvotum gegen Johnson mit einer anschliessenden Übergangsregierung und Neuwahlen. Die Übergangsregierung würde dann um einen erneuten Brexit-Aufschub bitten, um zu einem wie auch immer gearteten Ausstiegsvertrag zu kommen. Die Labour-Opposition hat zudem angekündigt, in diesem Fall auch ein zweites Brexit-Referendum auf den Weg bringen zu wollen. 

Sollte das Misstrauensvotum gegen Johnson nicht zustande kommen oder scheitern, könnte das Parlament alternativ ein Gesetz verabschieden, das einen No-Deal-Brexit grundsätzlich unmöglich macht. Diese Möglichkeit würde es den Tory-Abgeordneten, die zwar gegen einen No-Deal-Brexit sind, aber ihre eigene Regierung nicht stürzen wollen, erleichtern, zuzustimmen.

Die Vorbereitungen für beide Szenarien laufen. Kurz nach Ende der Sommerpause des britischen Parlaments am 3. September wird man sehen, welchen Weg die Gegner eines No-Deal-Brexits gehen wollen.

Im Johnson-Lager wurde auch die Möglichkeit diskutiert, das Parlament zu umgehen und so einen No-Deal-Brexit durchzudrücken. Diese Überlegungen würden das Aushebeln der demokratischen Grundsätze Grossbritanniens und die Einbeziehung der Königin – nur sie kann das Parlament vorzeitig auflösen – in eine politische Entscheidung bedeuten. Beides ist – auch innerhalb der konservativen Tory-Partei – höchst umstritten und könnte Verfassungsklagen nach sich ziehen.  

Kein Mandat und keine Mehrheit für einen No-Deal-Brexit

Johnson hat also kein Mandat – in keiner Abstimmung hat sich die Mehrheit der Briten für einen No-Deal-Brexit ausgesprochen – und keine parlamentarische Mehrheit. Am 13. März 2019 stimmte das Parlament mit einer Mehrheit von 321 zu 278 Stimmen gegen einen ungeordneten Brexit.

Warum besteht Johnson dann auf seiner unnachgiebigen Haltung gegenüber der EU? Er scheint eine Taktik hinter seiner Taktik zu verfolgen und selbst fest mit Neuwahlen zu rechnen. Bis dahin will er als der starke Brexit-Mann dastehen, der hart und konsequent im Streit mit der EU geblieben ist. So kann er – fast – allen politischen Konkurrenten bei Neuwahlen vorwerfen, eingeknickt zu sein und den Brexit nicht wirklich zu wollen. Dass es zum Zeitpunkt der Neuwahlen bereits zu einer erneuten Brexit-Verschiebung gekommen sein dürfte, wäre demnach nicht seine Schuld, sondern die der Kräfte, die einen Brexit verhindern wollen.

Alles nur Show?

Wenn das Johnsons Taktik ist, dann sind seine Drohgebärden mit einem No-Deal-Brexit letztendlich nur Show und Vorbereitung für die nächsten Wahlen. Für die EU würde das bedeuten, dass es derzeit absolut keinen Sinn macht, mit Johnson zu verhandeln. 

 Johnsons riskantes Spiel könnte am Ende sogar aufgehen. Ein Grossteil der Briten ist erheblich genervt von den scheinbar unendlichen Brexit-Debatten. Viele wollen einfach nur ein Ende des Dramas. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov von Anfang August gaben 31 Prozent der Befragten an, für Johnsons Tory-Partei wählen zu wollen. 22 Prozent wollen Labour und 21 Prozent den Liberaldemokraten ihre Stimme geben. Die Brexit-Partei kam auf 16, die Grünen auf 7 und die restlichen Parteien auf 5 Prozent.

Kommt das Brexit-Dream-Team oder ein Brexit-Albtraum-Duo?

Aufgrund des Mehrheitswahlrechts in Grossbritannien – bei dem nur der Gewinner eines Wahlbezirks ins Parlament einzieht und die Stimmen der Unterlegenen verloren gehen – sind Prozentzahlen bei Wahlabsichten nicht sehr tragend. Es könnte aber zu einer regierungsfähigen Mehrheit für die Konservativen zusammen mit der Brexit-Partei von Nigel Farage kommen: Ein Brexit-Dream-Team oder ein Brexit-Albtraum-Duo – je nach Sichtweise.

Am Mittwoch will sich Johnson nun doch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und am nächsten Tag mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron treffen. Dabei wird sich herausstellen, ob es irgendeine Art von Verhandlungsspielraum und Verhandlungswillen beim Brexit gibt. 

 Wiederholt Johnson gegenüber Merkel und Macron nur seine Forderungen, dürften sich weitere Verhandlungen endgültig erledigt haben. Dann wird auch der G7-Gipfel vom 24. bis 26. August im französischen Biarritz keinen Durchbruch bringen – was viele nach wie vor hoffen. Dann könnten nur noch die Briten selbst einen No-Deal-Brexit verhindern. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies auch machen, ist hoch. Egal, wie oft Johnson seinen No-Deal-Bluff noch wiederholt.

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Die Brexit-Frage spaltet Grossbritannien
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Die 24-jährige Madeleina Kay will in der EU bleiben, London, 14. Februar 2019.
quelle: ap/ap / matt dunham
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Video: srf
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22 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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nimmersatt
19.08.2019 23:04registriert Februar 2014
Wetten, der lebt in ein paar Jahren - nach vollendeter Tat - ausserhalb Grossbritannien.
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Scaros_2
20.08.2019 08:00registriert Juni 2015
Bald frag ich mich ob der BER erst fertiggestellt ist oder der Brexit durchgezogen.
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mille_plateaux
20.08.2019 09:30registriert Juni 2017
Ist ja nicht zum aushalten.

Wir haben gelernt: Das politische System Grossbritanniens ist vollends unfähig, die Sache ins Trockene zu schaukeln. Die brauchen ein dickes Reformpaket. Ohne Queen, dafür mit demokratischem Zweikammersystem und Proporz.
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