Kos ist ein beliebtes Reiseziel für sonnenhungrige Touristen. In diesem Sommer hat eine ganz andere, sehr viel weniger beliebte «Reisegruppe» den Reiz der Ägäisinsel entdeckt: Flüchtlinge, die in erster Linie aus Syrien, Afghanistan und Irak stammen. Denn Kos liegt in Sichtweite der türkischen Küste, die Überfahrt auf die Insel und damit in die Europäische Union ist kurz.
Der Andrang überfordert die Behörden, sie fühlen sich im Stich gelassen. Allein in den letzten Tagen kamen rund 7000 Flüchtlinge auf Kos an. Sie müssen häufig im Freien schlafen und tagsüber in der Hitze ausharren. Es kam zu Ausschreitungen und Zusammenstössen mit der Polizei. Humanitäre Organisationen bezeichneten die Lage auf Kos als chaotisch. Ähnlich sieht es auf anderen Inseln wie Samos, Lesbos und Chios aus.
Die Regierung des Krisenstaats Griechenland will neben zusätzlichen Sicherheitskräften auch eine Fähre nach Kos schicken. Sie soll als Notunterkunft für 2000 bis 2500 Flüchtlinge dienen. Das kündigte der griechische Staatsminister Alekos Flambouraris am Mittwoch an. Die Migranten sollen dort auch registriert werden, hiess es. «Wir hoffen, dass die EU zur Handhabung dieser immer grösser werdenden humanitären Krise beitragen wird», erklärte Flambouraris weiter.
Die östliche Route via Griechenland und den Balkan nach Ungarn hat in diesem Jahr die zentrale Mittelmeerroute, auf der regelmässig Menschen ertrinken, als beliebtester Fluchtweg nach Europa abgelöst. Nicht nur auf den griechischen Inseln wissen die Behörden kaum, wie sie den Andrang bewältigen sollen. Denn die Entwicklung ist eindrücklich:
In Syrien herrscht seit mehr als vier Jahren Bürgerkrieg, ein Ende ist nicht in Sicht. Rund 1,8 Millionen Menschen sind in die Türkei geflohen, wo die meisten auch bleiben. Immer mehr Syrer vorab aus der Mittelklasse aber versuchen, nach Europa zu gelangen. Bis Ende Juli sind rund 124'000 Flüchtlinge über das Meer nach Griechenland gekommen. Das entspricht einer explosionsartigen Zunahme von 750 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum 2014, hält das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) fest. Allein im Juli kamen rund 50'000 Personen.
Rund 70 Prozent entfielen demnach auf Flüchtlinge aus Syrien. Vincent Cochetel, Europadirektor des UNHCR, spricht von einem «humanitären Notstand». Die meisten Ankömmlinge wollen allerdings nicht in Griechenland bleiben, nur 6200 haben laut UNHCR dort bis Ende Juni Asyl beantragt. Sie wollen weiter in die wohlhabenderen EU-Länder. Besonders beliebt sind Deutschland, die Niederlande und Schweden.
Von der türkischen Küste auf die griechischen Inseln ist es wie erwähnt nur ein Katzensprung. Ungefährlich ist die Überfahrt in den oft überladenen Booten dennoch nicht. Der Standardpreis betrage 1000 US-Dollar pro Person, erklärten Flüchtlinge dem Fernsehsender Al Jazeera America, der auf seiner Website eine Reportage über die Balkanroute veröffentlicht hat. Wer in Griechenland ankommt, zieht möglichst schnell weiter Richtung Mazedonien.
Die frühere jugoslawische Teilrepublik ist mit dem Zustrom genauso überfordert wie die griechischen Behörden. Im Grenzort Gevgelija spielen sich dramatische Szenen ab, unzählige Flüchtlinge drängen in die Züge nach Serbien. Auf internationalen Druck hatte die Regierung den Asylsuchenden im Juni ein 72-stündiges Bleiberecht und die Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel zuerkannt. Vorher hatten sie versucht, zu Fuss den Schienen entlang nach Norden zu gelangen, wobei einige ums Leben kamen.
Andere kauften sogar Velos, meist zu überhöhten Preisen, und machten sich so auf den Weg in Richtung Serbien. Dieser ist alles andere als ungefährlich. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International schlug Anfang Juli Alarm: Zahlreiche Migranten würden von kriminellen Banden und korrupten Polizisten misshandelt. Sie werden erpresst und so lange an der Weiterreise gehindert, bis sie bezahlen. Und selbst in Ungarn hat der Leidensweg kein Ende.
Obwohl Ungarn «eines der wohl unattraktivsten Länder für Asylbewerber ist», wie Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga letzte Woche erklärte, haben im ersten Halbjahr 2015 fast 70'000 Personen ein Asylgesuch eingereicht. Auch dies ist eine explosionsartige Zunahme, im gleichen Zeitraum des letzten Jahres waren es nur etwas mehr als 5000. Insgesamt wurden rund 100'000 Flüchtlinge registriert.
Die nationalkonservative Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán reagiert mit Härte. «Das Boot ist voll», hat ein Regierungssprecher kürzlich erklärt. Auf 175 Kilometern lässt Orbán einen Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Serbien errichten. Dieser soll nicht wie ursprünglich geplant im November, sondern bereits Ende August stehen. Ausserdem wurde das Asylverfahren gestrafft, damit «Wirtschaftsflüchtlinge» möglichst schnell nach Serbien abgeschoben werden können.
Beobachter machen gerade den Bau des Zauns für den Grossandrang der letzten Wochen und Monate verantwortlich. Und seine abschreckende Wirkung ist zweifelhaft. «Die Menschen werden immer einen Weg finden», sagte Ivana Vukasevic vom serbischen Zentrum für Integration und Toleranz zu Al Jazeera America. Mit Geld könne jede Grenze überquert werden: «Flüchtlinge ohne Geld, die verwundbarsten, werden am meisten Probleme haben.»
Die Europäische Union wird von den Staaten an der Balkanroute wegen mangelnder Unterstützung kritisiert. Ungarn wollte Ende Juni sogar das Dublin-Abkommen aussetzen und keine Flüchtlinge mehr zurücknehmen, verzichtete aber auf diesen Schritt. Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras sagte, sein Land benötige die Hilfe der EU-Partner. «Jetzt wird sich zeigen, ob die EU eine EU der Solidarität ist oder eine EU, in der jeder nur versucht, seine Grenzen zu schützen.»
Diese Woche gab die EU-Kommission 2,4 Milliarden Euro für das Migrationsmanagement bis 2020 frei, wobei der Löwenanteil an Italien, Griechenland und Spanien geht. Im Juni hatten die Staats- und Regierungschefs der EU ausserdem grundsätzlich beschlossen, 40'000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf andere europäische Staaten zu verteilen.
In mehreren Sondersitzungen haben die EU-Innenminister darüber aber noch keine Einigung erzielt. Simonetta Sommaruga nimmt für das Schengen/Dublin-Mitglied Schweiz an diesen Treffen teil – sie ist die amtsälteste Ressortchefin. Sie beurteilt die Diskussion bereits als Fortschritt: «Früher war es ein Tabu, Flüchtlingsquoten auch nur zu erwähnen.» Die Schweiz selber ist vom Andrang auf der Balkanroute kaum betroffen, entsprechend gering nahm hierzulande die Zahl der Asylbewerber im ersten Halbjahr 2015 zu.
Dahinter stehen die gnadenlosen Gesetze des Marktes, Angebot und Nachfrage.