Die Fallzahlen in Schweden sind alarmierend. Der Kurve nach ist der Peak noch immer nicht erreicht. Insgesamt wurden in Schweden bisher 52'383 Personen positiv auf das Coronavirus getestet. Das sind rund doppelt so viele, wie Dänemark (12'217), Finnland (7108) und Norwegen (8631) zusammen und auch deutlich mehr als die Schweiz (31'048).
Der Anstieg in den Fallzahlen hat allerdings auch einen Zusammenhang mit dem erhöhten Testvolumen – dazu später mehr.
Zuerst aber zu den Todesopfern: Schweden hat durch Covid-19 sehr viele Menschenleben zu beklagen. Am Dienstag wurden total 4891 Tote gemeldet. Das entspricht rund 47 Toten pro 100'000 Einwohnern, deutlich mehr als alle anderen skandinavischen Länder und auch deutlich mehr als die Schweiz (knapp 20 Tote pro 100'000 Einwohner).
Inzwischen – und das ist sicher die beste Nachricht für Schweden – sind die täglich gemeldeten Todesfälle allerdings rückläufig.
Mehr als die Hälfte aller Todesfälle wurden in Alters- und Pflegeheimen gezählt. Der Schwedische Staatsepidemiologe Anders Tegnell gab in diesem Zusammenhang zu: «Wir hätten unsere Pflegeeinrichtungen besser schützen können. Wir hätten wahrscheinlich ein bisschen mehr testen können am Anfang.» Den Vorwurf auf verpasste Maskenpflicht lehnte Tegnell allerdings deutlich ab – Gesichtsmasken seien «kein nützlicher Schutz» gegen das Virus.
Schweden ging einen anderen Weg als die anderen skandinavischen – und auch als die meisten anderen europäischen – Länder. Schulen, Restaurants und Geschäfte blieben grösstenteils geöffnet. Die Schwedischen Behörden vertrauten auf die Selbstdisziplin der Einwohner in Bezug auf Hygiene und Social Distancing.
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An vielen Orten in Schweden ist auf den ersten Blick kaum etwas zu erkennen von der Coronakrise. Die grösste Einschränkung ist derzeit wohl das Verbot von Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen.
Während Schwedens lockerer Umgang mit dem Coronavirus anfangs weit über die Landesgrenzen aus bewundert wurde, häuft sich mit den steigenden Fall- und Todeszahlen die Kritik – auch im Inland.
Eine landesweite Umfrage anfangs Juni zeigte, dass das Vertrauen in die Regierung schwindet: Weniger als die Hälfte der Schweden gaben an, ein «ziemlich hohes» oder «hohes» Vertrauen in die Strategie der Regierung zu haben. Im April waren es noch 63 Prozent aller Befragten.
Auch von hohen Politikern kommt Kritik: Jimmie Åkesson, Kopf der populistischen Schwedendemokraten, bezeichnete die hohe Sterblichkeitsrate in der Schwedischen Boulevardzeitung Aftonbladet in einem Interview als «Massaker».
Ministerpräsident Stefan Löfven will nichts von einer Fehlstrategie wissen: Die steigenden Fallzahlen seien eine direkte Konsequenz des erhöhten Testaufkommens. Tatsächlich hat die Regierung anfangs Juni nochmals umgerechnet 600 Millionen Franken für vermehrtes Testen und Contact Tracing locker gemacht (siehe nächster Punkt).
Anfangs wurden in Schweden fast ausschliesslich Patienten, die bereits hospitalisiert waren und Gesundheitspersonal getestet. Inzwischen wird häufiger getestet – das angepeilte Ziel von 100'000 Tests wöchentlich, das von der Regierung für Mitte April gesetzt wurde, ist jedoch noch längst nicht erreicht.
In der ersten Juniwoche wurden knapp 50'000 Tests durchgeführt, in der Vorwoche waren es noch 36'500. Damit hat Schweden die wöchentliche Testzahl der Schweiz überholt.
Anfangs Juni musste Anders Tegnell, Schwedens Staatsepidemiologe, eingestehen, dass es zu viele Todesfälle gab. Stünde man nochmals am Anfang der Pandemie, würde man mit dem heutigen Wissensstand wohl einiges anders machen, meinte Tegnell. Den aktuellen Kurs ändern will «Schwedens Daniel Koch» aber nicht, er bereue nichts und sei weiterhin zuversichtlich, dass die Strategie im «Grossen und Ganzen funktioniert».
Daraufhin wies auch Schwedens Premierminister Stefan Löfven Kritik zurück. «Wir sind grundsätzlich der gleichen Strategie gefolgt wie viele andere», sagte Löfven in einem Interview mit dem Schwedischen Fernsehen am Sonntag. Es sei noch zu früh, um ein abschliessendes Fazit über den «Erfolg» der Strategie zu ziehen. Der Premierminister hat auch eine Untersuchung der schwedischen Reaktion auf Covid-19 versprochen.
Mit den vielen Todesopfern zahlt Schweden einen hohen Preis, damit die Wirtschaft mit einem blauen Auge davon kommt. Und ob das tatsächlich so ist, wird sich erst noch zeigen.
Erste Hinweise deuten jedoch darauf hin, dass «der sanfte Lockdown den Wachstumsrückgang in Schweden abgefedert hat im Vergleich zu anderen Ländern», meinte die SEB, eine der drei grössten Banken des Landes, in ihrer Analyse anfangs Mai. Trotzdem schätzt die Bank, dass die – für Schweden sehr wichtige – Exportindustrie um rund 15 Prozent einbrechen wird.
Für das Bruttoinlandprodukt rechnet Schweden mit einem Rückgang von rund 6,5 Prozent – zum Vergleich: In der Schweiz schätzen die Experten einen Rückgang von 6,2 Prozent.
Ein anderer Punkt, der Schweden Sorgen bereiten dürfte, ist die Abschottung zu den Nachbarländern. Während die restlichen Skandinavier sich seit Montag wieder frei über die Landesgrenzen aus bewegen dürfen, wird den Schweden der Übertritt in viele Länder noch verboten.
Bei einigen Ländern – darunter auch die Schweiz – müssen sich die Schweden speziellen Kontrollen unterziehen bei der Einreise, so beispielsweise Temperaturmessungen am Flughafen.
Die Schwedische Aussenministerin Ann Linde fürchtet daher, dass die «nordische Zusammenarbeit längerfristig unter diesen Reiseverboten für Schweden leiden wird».
Aber im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich hoffe wir haben für etwaige neue Wellen oder Viren nun bessere Konzepte und Strukturen um nicht wieder in Lockdowns zu landen. Wirtschaftlich sind die Probleme nachwirkend übel.
Wenn man nun darüber mal ganz nüchtern nachdenkt, wird man zum Entschluss kommen, dass eben viele aus den Risikogruppen bereits "das Feld geräumt" haben.
So gesehen wurden Alte und Gebrechliche für die Wirtschaft und die "Freiheit" anderer regelrecht geopfert.