«Das Reichstagsgebäude ist die Wirkungsstätte unseres Parlaments und damit das symbolische Zentrum unserer freiheitlichen Demokratie. Dass Chaoten und Extremisten es für ihre Zwecke missbrauchen, ist unerträglich», sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) der «Bild am Sonntag».
Demonstranten gegen die staatliche Corona-Politik hatten am Samstagabend eine Absperrung am Reichstagsgebäude in Berlin durchbrochen und waren auf die Reichstagstreppe gestürmt. Polizeibeamte drängten die Menschen zurück. Die Polizei setzte Pfefferspray ein, es kam zu Rangeleien. Am Reichstagsgebäude hatte es zuvor eine Kundgebung gegeben. Bei Demonstranten waren auch die von Reichsbürgern verwendeten schwarz-weiss-roten Reichsflaggen zu sehen. Die Polizei löste die Demo dann auf. Einsatzkräfte räumten den Platz vor dem Reichstagsgebäude und schoben die Demonstranten weg.
Auf diesem Video verteidigen drei Polizisten die letzen Stufen auf dem Reichstag, einer ohne Helm, und ich weiß nicht, welchen ich mehr bewundere. Was für Vollidioten davor. #Berlin2908 #b2908 pic.twitter.com/8ZlAHsTmT9
— Marcus Schwarze 🚀 (@MarcusSchwarze) August 29, 2020
Videos, die im Internet kursieren, zeigen, wie die Menschen direkt vor der Tür des Reichstags stehen. Nur drei Polizisten standen ihnen noch im Weg.
Polizeisprecher Thilo Cablitz erklärte dazu: «Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt, um hier die Absperrung zu übersteigen, zu durchbrechen, um dann auf die Treppe vor dem Reichstag zu kommen.»
«Meinungsvielfalt ist ein Markenzeichen einer gesunden Gesellschaft. Die Versammlungsfreiheit hat aber dort ihre Grenzen, wo staatliche Regeln mit Füssen getreten werden», sagte Seehofer weiter. Aussenminister Heiko Maas (SPD) twitterte: «Reichsflaggen vorm Parlament sind beschämend.» SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz schrieb: «Nazisymbole, Reichsbürger- & Kaiserreichflaggen haben vor dem Deutschen Bundestag rein gar nichts verloren.»
Unglaubliche Szenen vor dem Reichstag. Rechte sind bis vor das Eingangsportal vorgedrungen. pic.twitter.com/RktDLt0w88
— julius geiler (@glr_berlin) August 29, 2020
Auf die Frage, ob es vielleicht besser gewesen wäre, die Demonstration zu verbieten, sagte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, er wundere sich, dass der Verfassungsschutz nach eigenen Angaben im Vorfeld keine Hinweise darauf entdeckt habe, «dass hier Rechtsextreme versuchen, diese Demonstration zu unterwandern». Die Bilder des Tages zeigten etwas anderes. «Das wird man sich nochmal genauer angucken müssen, warum diese Hinweise im Vorfeld anscheinend nicht vorlagen oder nicht vernünftig ausgewertet wurden», sagte der SPD-Politiker bei «Bild live». Nun werde im Ältestenrat des Bundestages zu klären sein, «wie Sicherheitskonzepte ausgesehen haben.»
Nach Schätzungen der Behörden nahmen an den Protesten in der Stadt am Samstag insgesamt rund 38'000 Menschen teil. Wie Innensenator Andreas Geisel (SPD) am Abend berichtete, wurden über den Tag verteilt rund 300 Menschen festgenommen, allein vor der russischen Botschaft etwa 200. Dort flogen unter anderem aus einer Menge von rund 3000 sogenannten Reichsbürgern und Rechtsextremisten Steine und Flaschen auf die Polizei, wie er sagte. Laut Polizei gab es dort auch Gefangenenbefreiungen. Geisel bezeichnete die Ereignisse als vorhersehbar. «Es war erwartbar, was heute passiert ist», sagte er am Samstagabend in den ARD-«Tagesthemen».
Die Teilnehmer am Reichstag haben erneut die Absperrungen durchbrochen und sind die Treppen hochgestürmt. Massiver Einsatz von Pfefferspray durch die Polizei. #b2908 pic.twitter.com/tTqGd6K8Wq
— ENDSTATION RECHTS. (@ER_MV) August 29, 2020
Festgenommen wurde vor der russischen Botschaft auch der Vegan-Koch Attila Hildmann, der sich selbst «ultrarechts» und einen Verschwörungsprediger nennt. Zu den Hintergründen der Festnahme Hildmanns äusserte sich Geisel nicht.
Festnahmen vor der russischen Botschaft. Extrem aggressive Stimmung. #b2908 pic.twitter.com/z4obRroMCl
— Felix Huesmann (@felixhuesmann) August 29, 2020
Im Laufe des Tages wurden auch Strassen vorübergehend blockiert, Absperrungen durchbrochen und ein Baucontainer angezündet, wie die Polizei weiter mitteilte. Sie war mit rund 3000 Beamten im Einsatz.
Aufgerufen zum Protest hatte die Stuttgarter Initiative Querdenken 711. Sie hatte mit rund 22'000 Teilnehmern gerechnet, es kamen aber deutlich mehr. Es gab auch Gegenproteste, unter anderem aus der linken Szene.
Der selbsternannte Reichskanzler und seine Leibgarde. Attila Hildmann wurde vor wenigen Sekunden in Polizeigewahrsam genommen. #b2908 pic.twitter.com/P60J4srwZP
— julius geiler (@glr_berlin) August 29, 2020
Der US-Rechtsanwalt, Umweltaktivist und Impfgegner Robert Francis Kennedy junior, Neffe des früheren US-Präsidenten John F. Kennedy, wandte sich in einer Rede auf der Kundgebung gegen den Aufbau des neuen 5G-Mobilfunknetzes, warnte vor einer Totalüberwachung und attackierte in diesem Zusammenhang unter anderem Microsoft-Gründer Bill Gates.
Einen geplanten Demonstrationszug am Mittag hatte die Polizei nicht starten lassen, weil die Mindestabstände zum Infektionsschutz nicht eingehalten wurden. Nach längeren Verhandlungen mit den Veranstaltern erklärte die Polizei, sie löse die Versammlung auf. Es bleibe «leider keine andere Möglichkeit». Danach trug die Polizei Demonstranten weg, die auf der Strasse sitzen blieben und nicht freiwillig gingen.
Auf Transparenten forderten Teilnehmer den Rücktritt der Bundesregierung sowie ein Ende der Schutzauflagen und Alltagsbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie. Auf Plakaten stand «Maulkorb-Demokratie – ohne uns», «Stoppt den Corona-Wahnsinn» und «Corona-Diktatur beenden». Immer wieder skandierte die Menge «Widerstand» und «Wir sind das Volk».
Ebenfalls auf der Straße des 17. Juni: Der Holocaustleugner und Youtuber Nikolai Nerling (Volkslehrer) und seine völkische Trachten-Entourage. #b2908 pic.twitter.com/AAbF2XdgdB
— Felix Huesmann (@felixhuesmann) August 29, 2020
Auch AfD-Politiker und andere rechte Gruppen hatten zur Teilnahme aufgerufen. Am Brandenburger Tor und anderen Orten waren auch Flaggen mit Reichsadler, T-Shirts in Frakturschrift und andere Symbole von Rechtsextremisten zu sehen. Insgesamt versammelte sich aber auf der Friedrichstrasse, wo die Demo starten sollte, und später an der Siegessäule eine breite Mischung von Bürgern, darunter Junge und Alte sowie auch Familien mit Kindern.
Der Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, warnte vor möglichen Folgen der Corona-Proteste. «Solche Demonstrationen sind für radikale Bewegungen ein ideales Umfeld, um immer mehr Menschen für ihre Ideologien zu gewinnen», sagte Fiedler der «Rheinischen Post» (Sonntag/Online-Ausgabe). «Dort mischen sich Feinde der Demokratie mit Teilen der gesellschaftlichen Mitte, Verschwörungstheorien können so immer schneller um sich greifen.»
Eigentlich wollten die Berliner Behörden die Versammlungen verbieten, sie unterlagen jedoch vor Gerichten. Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin gegen das Verbot wurde in der Nacht zum Samstag bekannt. Als Grund für die Verbotsverfügung hatte die Polizei angeführt, dass durch die Ansammlung Zehntausender Menschen – oft ohne Maske und Abstand – ein zu hohes Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung entstehe. Das habe bereits die Demonstration gegen die Corona-Politik am 1. August in Berlin gezeigt, bei der die meisten Demonstranten bewusst Hygieneregeln ignoriert hätten.
Der Initiator der Demonstration und Kundgebung, Michael Ballweg, hat sich von den Demonstranten am Reichstag distanziert. Ballweg von der Initiative Querdenken sagte am Sonntag: «Die haben mit unserer Bewegung nichts zu tun.» Querdenken sei eine friedliche und demokratische Bewegung, Gewalt habe da keinen Platz.
Er verstehe nicht, warum der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) «nicht entsprechende Polizeikräfte aufwartet, um solchen Aktionen zu begegnen» – zumal diese vorher bekannt gewesen seien, meinte Ballweg. «Warum ist er nicht in der Lage, das Gebäude zu schützen?» (sda/dpa)
Aber ich hab das kommen sehen...
Diese Leute waren immer da. Der Unterschied ist, jetzt kommen sie aus ihren Löchern gekrochen und bekommen mit solchen Aktionen die grosse Bühne. Man darf die Symbolik nicht unterschätzen, die diese Bilder für diese Typen haben.
Die Politik trägt eine Mitschuld. Viel zu lange wurde weggeschaut, verleugnet (zB Maassen). Auch jetzt redet Seehofer von Chaoten, wo man doch genau sieht, um wen es sich handelt.
Nun kann man nicht mehr leugnen, sondern muss handeln.
Nie wieder.