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«Pingdemic»-Effekt: England fliegt der «Freedom Day» um die Ohren

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Personalausfälle wegen Quarantäne führten in Supermärkten wie hier in London zu leeren Regalen.Bild: keystone

Leere Regale, kein Benzin: England fliegt der «Freedom Day» um die Ohren

Die Aufhebung aller Corona-Massnahmen in England hat Nebenwirkungen: Weil sich immer mehr Menschen isolieren müssen, kommt es zu Versorgungsengpässen und zum Ausfall von Dienstleistungen.
24.07.2021, 06:0425.07.2021, 12:42
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In der Nacht auf Montag feierten viele Menschen in England den «Freedom Day» mit wilden Partys. An diesem Tag wurden praktisch alle Corona-Massnahmen aufgehoben, auch Maskenpflicht und Abstandsregeln. Längst nicht alle Engländer aber waren in Feierlaune. Denn die grosse Freiheit wurde mitten in einer Zeit stark steigender Fallzahlen verordnet.

In den letzten Tagen kam es zu einer gewissen Abflachung bei rund 40’000 Infektionen pro Tag. Der Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College in London aber hält es für «beinahe unausweichlich», dass die Marke von 100’000 bald erreicht wird. Es könnten sogar doppelt so viele Neuansteckungen werden, sagte Ferguson am Sonntag der BBC.

Selbst der Regierung war nicht ganz wohl in ihrer Haut. Premierminister Boris Johnson ermahnte die Engländerinnen und Engländer eindringlich, sich weiterhin vorsichtig zu verhalten. Gleichzeitig verteidigte er den «Freedom Day». Es sei besser, diesen Schritt im Sommer zu machen, wenn sich das Leben draussen abspiele, als im Herbst oder Winter.

Der «Pingdemic»-Effekt

Pikant daran war, dass Johnson sich zu diesem Zeitpunkt in Selbstisolation befand. Gesundheitsminister Sajid Javid, mit dem er sich am Wochenende zu einer Sitzung getroffen hatte, war trotz doppelter Impfung positiv getestet worden. Anfangs hatte der Regierungschef versucht, sich um die Pflichtquarantäne herumzumogeln.

Nach einem Aufschrei der Empörung gab Johnson nach, denn Hunderttausende seiner Landsleute mussten sich nach einer Warnmeldung durch die britische Covid-App ebenfalls für zehn Tage in Quarantäne begeben, ungeachtet ihres Impfstatus. Das Phänomen erhielt den Namen «Pingdemic», nach dem von der App erzeugten Alarmton.

Fast alle Bereiche betroffen

Noch am Mittwoch betonte die Regierung, die Selbstisolierung sei «unabdingbar». Sie ist neben der «Impfmauer» (zwei Drittel der erwachsenen Briten sind vollständig geimpft) das zweite Standbein, um den «Freedom Day» zu ermöglichen und eine erneute Überlastung der Spitäler zu verhindern. In den letzten Tagen aber ist die Lage regelrecht eskaliert.

Wegen der Pflichtquarantäne kommt es zu einem Ausfall von Arbeitskräften, der sich auf fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens auswirkt. In London mussten U-Bahn-Linien zeitweise stillgelegt werden. In den Supermärkten kam es wegen Versorgungsengpässen zu leeren Regalen. Einzelne Filialen machten zu, andere beschränkten die Öffnungszeiten.

Dispens für Spitalpersonal

Der Ausfall von Lastwagenfahrern fiel besonders ins Gewicht. So ging einigen Tankstellen das Benzin aus. Betroffen sind auch die Industrie, das Gastgewerbe und die öffentlichen Dienste, vom Gesundheitswesen über die Abfallentsorgung bis zur Postzustellung. Mehr als eine Million Kinder konnten laut dem «Guardian» letzte Woche nicht zur Schule gehen.

Die konservative Regierung wiegelte erst ab. Es handle sich um punktuelle Probleme, sagte Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng. Allerdings können Angestellte des nationalen Gesundheitsdienstes NHS sich seit Montag bei drohenden Engpässen in den Spitälern von der Selbstisolierung befreien. Sie müssen sich dafür täglich testen lassen.

Johnsons Eigentor

Am Freitag ging die Regierung einen Schritt weiter. Wer in der Lebensmittelproduktion oder in Verteilzentren von Supermärkten arbeitet, erhält ebenfalls einen Dispens, ungeachtet des Impfstatus. Auch in diesem Fall gilt eine tägliche Testpflicht. Für das Personal in den Läden wurde diese Massnahme verworfen – wegen zunehmenden Spitaleinweisungen.

A woman poses for a photo using the new NHS COVID-19 mobile phone application after the app went live on Thursday morning, in Leeds, England, Thursday, Sept. 24, 2020. The rollout follows months of de ...
Die britische Covid-App fordert nach dem Kontakt mit einer infizierten Person zu einer zehntägigen Quarantäne auf.Bild: keystone

Das «Pingdemic»-Desaster passt zur sprunghaften Corona-Politik von Boris Johnson. In den Umfragen hat sich das bislang kaum niedergeschlagen. Selbst der Ausfall von Weihnachten für Millionen Engländer schadete dem konservativen Premier nicht. Nun aber könnte er «sein bislang grösstes Eigentor» erzielt haben, kommentierte die Boulevardzeitung «i».

Ab 16. August sollen alle doppelt geimpften Engländer von der Pflichtquarantäne befreit werden. Bis dann drohe ein «chaotischer Sommer», warnte Labour-Chef und Oppositionsführer Keir Starmer am Mittwoch im Unterhaus. Kurz danach mussten er und seine Familie sich ebenfalls isolieren: Eines seiner Kinder war positiv getestet worden.

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94 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Ueli_DeSchwert
24.07.2021 07:12registriert September 2018
Nein!
Doch!
Ooh!

Wer hätte das erwarten können...?
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Haarspalter
24.07.2021 07:51registriert Oktober 2020
Na ja, ein „Freedom Day“ dauert halt logischerweise nur einen Tag lang.
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JKistus
24.07.2021 07:03registriert März 2017
Mir tun alle Engländer leid, die dadurch jetzt Probleme haben. Und ich hoffe, dass die schweren Verläufe und Todesfälle nicht mehr stark ansteigen. Was Johnsons Regierung da entschieden hat, verstehe ich nicht. Bei klar steigenden Fallzahlen. Und dass man dann extra noch einen "Freedom Day" feiern muss.
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