Ende letzten Jahres sah es so aus, als wäre die Europäische Union aus dem Gröbsten heraus. 2016 war sie durch das Brexit-Votum und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten erschüttert worden. Doch das «Superwahljahr» 2017 verlief ohne den befürchteten Siegeszug der (Rechts-)Populisten. Mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron erschien eine neue Lichtgestalt. Gleichzeitig nahm die Wirtschaft in der Eurozone endlich wieder Fahrt auf.
Die Aufbruchstimmung aber dauerte nur kurz. Die Regierungsbildung im wichtigsten EU-Staat Deutschland zog sich hin und endete mit einer Neuauflage der ungeliebten grossen Koalition. Bei den Wahlen in Italien – nach dem Austritt Grossbritanniens das drittgrösste EU-Land – siegten die europakritischen Parteien Lega und Cinque Stelle. Sie werden nun gemeinsam regieren.
In Spanien, das sich gerade halbwegs von seiner schweren Wirtschaftskrise erholt hat, stürzte der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy über einen Korruptionsskandal. Und zu schlechter Letzt hat Donald Trump seine angedrohten Strafzölle auf europäische Stahl- und Aluminium-Exporte verhängt. Damit ist die Europäische Union definitiv zurück im Krisenmodus.
Europa befinde sich in einer Negativspirale, stellte der Chefredaktor des Onlineportals Politico in einem Leitartikel fest. Die EU-Hauptstadt Brüssel fühle sich 2018 «verwirrt und konfus» an, und die Aussichten für die zweite Jahreshälfte entsprächen dem dortigen Wetter: «Kalt, bewölkt, mit wenig Chance auf Sonnenschein.»
Ein düsteres Fazit zog der US-Finanzinvestor und Philanthrop George Soros bei einem Auftritt in Paris: «Europa befindet sich in einer existenziellen Krise. Alles, was schief laufen konnte, ist schief gelaufen.» Er nannte drei Hauptprobleme: Die Flüchtlingskrise, die mit den Brexit beginnende territoriale Desintegration und die Sparpolitik, «die Europas wirtschaftliche Entwicklung behindert».
Die negative Einschätzung von George Soros mag durch persönliche Motive verstärkt worden sein. Seine Open Society Foundation verliess kürzlich seine ursprüngliche Heimat Ungarn in Richtung Berlin. Sie zog damit die Konsequenzen aus der antisemitisch gefärbten Hetzkampagne des rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orban gegen den Juden Soros.
Europa müsse sich neu erfinden, forderte Soros in Paris. Das ist leichter gesagt als getan, wie die bislang maue Reaktion der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die Reformvorschläge von Emmanuel Macron zeigt. Nach wie vor scheinen die Deutschen nicht gewillt, die Eurozone durch einen gemeinsames Budget und einen europäischen Finanzminister zu stärken.
Mit ihrem sturen Spardogma haben die Deutschen wesentlich zum Erfolg der Populisten in Italien beigetragen. Die Hauptschuld an der Dauermisere im Bel Paese tragen die Italiener selbst, doch mit ihrer hohen Staatsverschuldung hätten sie gar nie in die Eurozone aufgenommen werden dürfen. Und beim Thema Migration werden sie vom restlichen Europa im Stich gelassen.
Nun droht der «Italexit», der Austritt Italiens aus der Eurozone. Er würde sie in ihren Grundfesten erschüttern und vielleicht zerreissen, denn Italien ist ein weit grösseres Kaliber als etwa Griechenland. Allerdings ist allen Austrittsszenarien gemein, dass sie nur schwer umsetzbar sind. Auch das hat man bei den Griechen gesehen. Nach wie vor gilt für die Eurozone der Refrain aus dem Eagles-Klassiker «Hotel California»: Man kann jederzeit auschecken, aber niemals gehen.
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras mutierte im Amt vom Feuerkopf zum Realpolitiker. In Italien könnte es ähnlich laufen. Der Euro-Gegner Paolo Savona wird in der neuen Regierung nur eine Nebenrolle spielen. Die Wirtschaft hat bereits Warnsignale ausgesandt. Und eine klare Mehrheit der Italiener will trotz allem in der Eurozone bleiben, wie eine aktuelle Umfrage zeigt.
Einfach wird es die Koalition von Lega und Cinque Stelle den Europäern trotzdem nicht machen. Lega-Chef Matteo Salvini will als Innenminister in der Migrationsfrage einen harten Kurs einschlagen. Und um die versprochenen Wohltaten zu finanzieren, könnte die Regierung von Giuseppe Conte in Versuchung geraten, die exorbitante Staatsverschuldung weiter zu erhöhen.
Da hilft es wenig, wenn EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Haushaltskommissar Günther Oettinger die Italiener mit Aussagen zur Korruption und zum Druck der Finanzmärkte in Wallung versetzen, obwohl beide nur das Offensichtliche ausgesprochen hatten. Die deutsche Regierung verhält sich schlauer und hält den Mund.
Die EU ist angesichts der Sturmwinde, die von jenseits des Atlantiks über den Kontinent toben, eigentlich auf grösstmögliche Einigkeit angewiesen. Mit den Strafzöllen wird sich Donald Trump langfristig nur selber schaden. Vorerst aber können die Europäer definitiv nicht mehr ignorieren, dass die USA kein verlässlicher Verbündeter mehr sind.
Krisen sind aber immer auch Chancen. Meldungen über ein Ableben der Europäischen Union dürften einmal mehr stark übertrieben sein. Grosse Würfe sind in nächster Zeit kaum zu erwarten, vor allem nicht in der Flüchtlingsfrage. Aber vielleicht einigen sich Macron und Merkel am EU-Gipfel Ende Juni doch auf einen Reformplan für die Eurozone.
Auch beim Brexit ist eine gütliche Trennung in Reichweite. Der britische Brexit-Minister David Davis arbeitet laut einem Bericht vom Donnerstag an einem Plan, bei dem Nordirland sowohl zum Königreich als auch zur EU gehören würde. In diesem Fall könnte die Grenze zur Republik Irland offen bleiben und ein zentraler Knackpunkt beseitigt werden.
Hoffnung macht schliesslich das neuste Eurobarometer. Ein Jahr vor der Europawahl ist die Zustimmung zur EU so hoch wie nie seit 1983, als die Union erst aus zehn Ländern bestand. Mehr als zwei Drittel der EU-Bürger sind demnach überzeugt, dass ihr Land von der Mitgliedschaft profitiert.
Angesichts der globalen Turbulenzen scheinen die Menschen erkannt zu haben, wie wichtig ein starkes und geeintes Europa ist. Die Politiker sollten sich daran ein Beispiel nehmen.
Man fragt sich deshalb, wie mies die politische Grosswetterlage in Brüssel tatsächlich ist. Zeit deshalb, für einen Augenschein vor Ort. Mehr dazu zu einem späteren Zeitpunkt.