Es ist eine schrecklich banale Zahl: Eines von zehn Kindern werde in Frankreich Opfer sexueller Gewalt durch Familienmitglieder, erklärte die Psychiaterin Muriel Salmona kürzlich. Viele Leute glaubten ihr nicht. Jetzt werden sie eines Besseren belehrt: Hunderte, wenn nicht Tausende Betroffene outen sich seit Wochenbeginn über den Twitter-Hashtag #metooinceste.
Die Nation ist wie vor den Kopf gestossen: Zahllose erwachsene Französinnen und Franzosen berichten, wie sie als Kinder sexuell missbraucht worden waren, aus Schamgefühl aber bis heute niemandem davon erzählt hätten. Etwa, wie der Vater zu ihnen in die Badewanne gestiegen sei, oder wie sie der Onkel auf den Dachboden gelockt habe. In Anlehnung an den Titel eines bekannten Buches über Inzestopfer beginnen viele Twitterberichte mit den Worten: «Beim ersten Mal war ich sechs Jahre alt.» Oder zehn, oder drei.
Diese Ich-auch-Lawine löste ein Mann aus, der gerne auf diese Ehre verzichtet hätte: Olivier Duhamel, den Franzosen bekannt als renommierter Jurist, Politberater und Journalist. Der 70-Jährige war bis vor zwei Wochen einer der einflussreichsten Persönlichkeiten des Pariser Establishments. Er trat regelmässig in Fernsehsendungen auf, leitete die Stiftung der Universität Sciences Po, welche die Politelite des Landes ausbildet, und er präsidierte seit 2020 auch den exklusiven Club «Le Siècle» – den wichtigsten Treffpunkt der Mächtigen Frankreichs.
All diese Ämter hat Duhamel über Nacht niedergelegt. Am Vortag hatte ihn seine Stieftochter Camille Kouchner in einem Buch namens «Die grosse Familie» des jahrelangen sexuellen Missbrauchs ihres Bruders bezichtigt.
Die Enthüllung beendete die Spitzenkarriere Duhamels schneller, als der Hollywood-Produzent Harvey Weinstein im Jahr 2017 zu Fall gekommen war. Das war umso erstaunlicher, als die Vorwürfe gegen den Pariser Politologen mindestens 30 Jahre zurückliegen. Und vor allem hatten sie im Pariser Intellektuellenviertel Saint-Germain-des-Prés seit mindestens einem Jahrzehnt zirkuliert. Doch niemand beschuldigte Duhamel offen, niemand reichte Klage gegen ihn ein. Auch der vergewaltigte Stiefsohn wollte die Sache auf sich beruhen lassen. Er sträubte sich allerdings nicht gegen das Buch seiner Schwester.
Die Zwillinge sind Kinder des früheren Aussenministers Bernard Kouchner, bekannt geworden als Gründer der «Ärzte ohne Grenzen». Er wusste wie so viele vom Treiben Duhamels, aber er soll nur einmal gesagt haben, er werde ihm «die Fresse polieren», wenn sich ihre Wege jemals kreuzen sollten. Auch die Mutter Evelyne Pisier wollte nicht, dass das Sexualverhalten ihres neuen Gatten Duhamel in die Medien gelangte.
Vielleicht hatte sie Schuldgefühle, da sie in der familiären Sommervilla am Mittelmeer selber höchst freizügigen Sitten gehuldigt hatte. «La familia grande», auf die der Buchtitel anspielt, war auch jene «gauche caviar» (Salonlinke), die aus Mai ‘68 hervorgegangen war und aus dem Katholizismus der de Gaulle-Ära ausgebrochen war.
Die Anwältin Camille Kouchner schildert, wie sich Erwachsene und Kinder am Pool nackt gebalgt und (auf den Mund) geküsst hätten. Evelyne Pisier pflegte selber eine jahrelange Liaison mit dem kubanischen Autokraten Fidel Castro. Als sie von ihrem Sohn erfuhr, was Duhamel mit ihm trieb, hielt sie ihn zum Schweigen an.
Ihre eigene Schwester, die bekannte Schauspielerin Marie-France Pisier, zeitweise selber mit dem 68er Daniel Cohn-Bendit liiert, ertrug dieses Schweigen allerdings nicht. Sie erzählte in Saint-Germain-des-Prés herum, welcher «salaud» (Schweinekerl) Duhamel sei. So erfuhren viele, was in der Ferienvilla von Sanary-sur-Mer passiert war.
Nach dem Tod von Marie-France Pisier im Jahr 2011 – sie wurde tot in ihrem Swimmingpool gefunden – berichteten andere Frauen weiter. Die ehemalige Kulturministerin Aurélie Filipetti informierte den Direktor von Sciences Po, Frédéric Mion, im Jahr 2019. Dieser vermag heute nicht einsichtig zu erklären, warum er Duhamel an seiner Seite beliess. Die sich häufenden Rücktrittsforderungen lehnt Mion aber ab. Ex-Kulturministerin Elisabeth Guigou, eine alte Bekannte Duhamels, hat hingegen unter dem öffentlichen Druck die Leitung einer nationalen Kommission gegen Inzest abgegeben.
Präsident Emmanuel Macron hat sich zur Duhamel-Affäre noch nicht geäussert. Seine Frau Brigitte forderte in einem Interview «härtere Gesetze», wohl in Sachen Verjährungsfristen. Duhamel ist heute nicht mehr belangbar. Seit der Aufgabe all seiner Ämter hat er sich nicht mehr zu Wort gemeldet.
Aber bei Missbrauch insbesondere von Minderjährigen finde ich Verjährung schlicht unverständlich. Die Opfer leiden praktisch alle ihr Leben lang daran (betroffen sind zudem meist auch zahlreiche Personen in ihrem näheren Umfeld!), in manchen Fällen beenden sie es deswegen vorzeitig. Kein Täter, keine Täterin darf hier davonkommen, bloss weil Taten schon etwas länger her sind. Das ist ein fatales Signal für alle.
Das Schweigen der Gesellschaft machen sich die Täter perfiderweise zu Nutze.
Man soll endlich aufören, dieses Thema zu tabuiesieren: Man muss darüber sprechen.
Sexueller Missbrauch an Kindern muss öffentlich gemacht und geahndet werden.