Ihr Buch trägt den Titel «Will he go?». Wie lautet Ihre Antwort?
Lawrence Douglas: Das Buch ist kein Politthriller, in dem sich Trump am 20. Januar 2021 im Weissen Haus verbarrikadiert, umgeben von abtrünnigen Secret-Service-Agenten. Ich erwarte, dass er nach einer Niederlage gegen Joe Biden schlussendlich gehen wird, befürchte aber, dass er die konstitutionelle Demokratie erheblich beschädigt, indem er das sehr zögerlich tut.
Was heisst das konkret?
Wenn es am 3. November sehr knapp wird, mit hauchdünnen Ergebnissen in einigen Swing States, erhält er die Gelegenheit, ein Chaos in aussergewöhnlichem Ausmass anzurichten.
Im Buch verwenden Sie die Metapher eines Asteroiden, der direkt auf Amerika zurast.
Als ich mit dem Schreiben begann, war es eine Art Gedankenspiel. Damals sah es so aus, als würde Trump gewinnen, er war ein sehr starker Kandidat. Also ging ich davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass es eintrifft, der Schaden in diesem Fall aber enorm wäre. Jetzt ist Trump viel verwundbarer und das Szenario leider wahrscheinlicher geworden.
In den USA werden verschiedene Szenarien für einen «Staatsstreich» diskutiert. Für Sie ist das Hauptproblem die Verfassung der Vereinigten Staaten.
Seit 30 Jahren erteile ich Unterricht zur Verfassung. Mit dem Wahlrecht habe ich mich dabei nie sonderlich befasst. Nun wollte ich wissen, welche Möglichkeiten Gesetze und Verfassung bieten, um einen amtierenden Präsidenten zu stoppen, der eine friedliche Übergabe der Macht bedroht. Die alarmierende Antwort lautet: nicht viele.
Warum ist dies der Fall?
Die Verfassung sichert einen friedlichen Machtwechsel nicht, sie setzt ihn voraus. Man nimmt an, dass die Regeln automatisch befolgt werden. Wenn ein amtierender Präsident wie Trump sie zurückweist, haben wir eine sehr, sehr problematische Situation. Die Verfassung und die Gesetze können dann sogar zur Eskalation beitragen.
Für Sie beginnt das Problem mit dem Electoral College, das letztlich den Präsidenten wählt. Deshalb konnte Trump 2016 gewinnen, obwohl er viel weniger Wählerstimmen erzielte als Hillary Clinton.
Das Electoral College geht auf das Jahr 1787 zurück, als die Verfassung geschrieben wurde. Heute ist es anachronistisch und dysfunktional. Es sieht vor, dass ein Kandidat sämtliche Wahlmännerstimmen in einem Gliedstaat erhält, in dem er gewinnt. Kleine konservative Staaten mit geringer Bevölkerung erhalten dadurch ein grösseres Gewicht als bevölkerungsreiche Staaten wie Kalifornien. Das bevorteilt die Republikaner, deshalb kann ihr Kandidat die Wahl gewinnen, auch wenn er das Volksmehr klar verpasst.
Warum lässt sich das nicht ändern?
Die meisten Leute halten das System für schlecht. Als die Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg unsere Schule besuchte, fragte ich sie, was sie am liebsten abschaffen würde. Sie antwortete sofort: das Electoral College. Aber man kann es nicht loswerden. Wenn etwas in unserer Verfassung noch dysfunktionaler ist, dann ist es die Methode, sie zu ändern. Das ist unglaublich schwierig, wir stecken in diesem System fest.
Im nächsten Schritt ist der Kongress am Zug, und auch das ist für Sie problematisch.
Der Kongress muss das Wahlergebnis am 6. Januar bestätigen. Bei einer normalen Wahl ist das ein rein zeremonieller Vorgang. Wenn in einem Bundesstaat jedoch der Gouverneur und das dortige Parlament unterschiedliche Wahlergebnisse einreichen, wird es sehr kompliziert. 1876 war dies der Fall. Ein Desaster konnte damals nur knapp vermieden werden. Der Kongress verabschiedete in der Folge ein Gesetz, um einen solchen Vorgang zu verhindern. Es stammt von 1887 und gilt bis heute, ist aber unglaublich fehlerhaft und konfus. Selbst ich mit meiner Erfahrung weiss nicht, worauf es hinaus will. Das ist ein echtes Problem.
Wie lässt sich eine Eskalation verhindern?
Es gibt zwei Möglichkeiten: Trump verliert deutlich, und zwar nicht nur die Volkswahl, sondern auch im Electoral College. Er wird immer noch behaupten, das Ergebnis sei ein Schwindel und man habe ihn um den Sieg betrogen. Aber er wird es schwer haben, damit durchzukommen. Bei einem knappen Ergebnis hingegen wäre es sehr hilfreich, wenn die Demokraten die Mehrheit nicht nur im Repräsentantenhaus, sondern auch im Senat erobern könnten. Dann gäbe es wohl ein Ergebnis für Joe Biden. Trump wird natürlich aufheulen und bei Sean Hannity und Konsorten Gehör finden. Aber es wäre immer noch besser als mit einem gespaltenen Kongress, wie wir ihn heute haben.
In diesem Fall könnte es sein, dass bis zur Amtsübergabe am 20. Januar kein Sieger feststeht. Was geschieht dann?
Dafür gibt es glücklicherweise ein Gesetz. Wenn es bis dann keinen gewählten Präsidenten und Vizepräsidenten gibt, übernimmt der Vorsitzende des Repräsentantenhauses das Amt. Im konkreten Fall wäre das Nancy Pelosi. Man kann sich aber vorstellen, was dann passiert. Trump wird pausenlos twittern, es handle sich um eine Verschwörung, einen Staatsstreich gegen ihn. Ich wurde gewählt, ich bin der legitime Präsident! Das ist sehr hässlich. Letzte Woche war er bereit, das Militär gegen Protestierende einsetzen. Man kann sich fragen, was das Militär tun würde, wenn Pelosi Präsidentin wird und Trump sich widersetzt.
Generalstabschef Mark Milley hat letzte Woche die Streitkräfte daran erinnert, dass sie der Verfassung und dem amerikanischen Volk verpflichtet sind.
Im Zeitraum zwischen der Wahl im November und der Vereidigung am 20. Januar kann ich mir nicht vorstellen, dass das Militär Befehle von Trump nicht befolgt, ausser sie wären offensichtlich kriminell. Es wäre sehr gefährlich, wenn das Militär sich dem Oberbefehlshaber widersetzen würde. Ich kann mir vorstellen, dass die Generäle auf ihn einwirken und versuchen, problematische Anordnungen so wenig aggressiv wie möglich umzusetzen.
Und was passiert, wenn Nancy Pelosi tatsächlich Präsidentin wird?
Ich habe darüber mit einem sehr bekannten General gesprochen. Er wollte mit diesem Szenario nichts zu tun haben. Das Militär will nicht entscheiden, wer Präsident ist. Ich hoffe deshalb und gehe auch davon aus, dass es sich dem Gesetz zur Nachfolgeregelung beugen und Nancy Pelosi als Oberkommandierende akzeptieren wird.
Was ist mit der Justiz, könnte sie Trump stoppen?
Man denkt natürlich an die unglaublich knappe Wahl 2000 zwischen Al Gore und George W. Bush. Am Ende entschieden 537 Stimmen in Florida für Bush, bei rund 90 Millionen landesweit abgegebenen Stimmen. Statistiker hätten dies als unmöglich bezeichnet. Möglich wurde es, weil der Oberste Gerichtshof sich einschaltete und mit einem parteiischen und armselig begründeten Entscheid die Nachzählung in Florida für beendet erklärte.
Könnte das wieder passieren?
Ich muss betonen, dass nicht der Oberste Gerichtshof die Kontroverse beendet hat, sondern Al Gore. Viele Demokraten hatten ihm geraten, den Kampf fortzusetzen und den Entscheid des Supreme Court nicht zu respektieren. Gore wollte das nicht, er war bereit, seine politischen Ambitionen dem Interesse der Nation unterzuordnen.
Obwohl er mit dem Gerichtsentscheid nicht einverstanden war.
Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass Donald Trump genauso handeln würde. Man muss auch bedenken, dass der Entscheid des Supreme Court damals Mitte Dezember erfolgte, bevor der Kongress das Wahlergebnis validieren musste. Wenn der Streit jedoch vor den Kongress kommt, sieht die Verfassung keine Rolle für den Obersten Gerichtshof vor. Es ist möglich, dass er sich in einem solchen Fall für nicht zuständig erklärt.
Was passiert, wenn das Gericht wie 2000 schon im Vorfeld angerufen wird?
Viele gehen davon aus, dass der Gerichtshof mit seiner konservativen Mehrheit Trump unterstützen würde. Ich stimme nicht unbedingt zu. Der Vorsitzende John Roberts ist sehr konservativ, aber auch ein überzeugter Institutionalist. Und ich denke nicht, dass er diesen Präsidenten besonders mag. Ich wäre nicht überrascht, wenn Roberts sich den vier progressiven Mitgliedern anschliessen und gegen Trump urteilen würde.
Was ist mit den Republikanern? Könnten sie Trump überzeugen, eine Niederlage zu akzeptieren?
Eine der erstaunlichsten Entwicklungen der letzten Jahre ist die Bereitschaft der Republikaner, Trump um jeden Preis zu verteidigen. Im Impeachment-Prozess hat nur ein republikanischer Senator für seine Absetzung gestimmt, und das war Mitt Romney. Er war vor acht Jahren der Bannerträger der Partei, ihr Kandidat für die Präsidentschaft. Jetzt ist er vollkommen isoliert. Donald Trumps Sohn hat seinen Rauswurf aus der Partei gefordert.
Dann gibt es also keine Hoffnung?
Falls Trump sehr klar verliert, könnte jemand wie Mitch McConnell, der Mehrheitsführer im Senat, ihn überzeugen, das Ergebnis zu akzeptieren. Das hoffe ich zumindest. Wenn es in den Swing States jedoch zu hauchdünnen Resultaten kommt, werden die Briefwahlstimmen entscheiden. Sie werden erst nach dem 3. November ausgezählt. Wir wissen vielleicht erst Tage oder Wochen später, wer Präsident ist.
Trump macht jetzt schon Stimmung gegen die Briefwahl.
Sie ist in den urbanen Gebieten besonders beliebt, die überwiegend demokratisch wählen. Das hat man bei den Midterms 2018 erlebt, als die «blaue Welle» erst in den Tagen nach der Wahl richtig ins Rollen kam. Trump ist sich dieser Tatsache sehr bewusst. Und mit Covid-19 werden noch mehr Leute brieflich wählen, also wird sich die Auszählung verlangsamen. Trump wird deshalb darauf beharren, dass nur das Resultat vom 3. November zählen darf.
Das ist absurd.
Bei der Senatswahl in Arizona 2018 hatte die Republikanerin Martha McSally am Wahltag 15’000 Stimmen Vorsprung. Nach Auszählung der Briefwahl gewann die Demokratin Kyrsten Sinema mit einem Unterschied von 56’000 Stimmen. Das ist eine Verschiebung um 71’000 Stimmen. Die Briefwahl ist nicht besonders anfällig für Betrug, aber es wird Fehler geben, rein menschliche, wie sie beim Auszählen geschehen können. Trump und seine Anhänger werden dies ausschlachten und bei den rechten Medien und einigen Republikanern Gehör finden. Sie werden darauf beharren, dass nur der 3. November zählen darf. Auf diese Weise können unterschiedliche Wahlresultate entstehen, die dem Kongress übermittelt werden.
Sie skizzieren ein ziemlich düsteres Bild der amerikanischen Demokratie.
Wenn wir eine Direktwahl des Präsidenten hätten, vielleicht verbunden mit einer Stichwahl wie in Frankreich, wäre das alles kein Problem. Trump wird mit Sicherheit erneut die Mehrheit der Stimmen verfehlen, wie 2016. Damals hatte er einen Rückstand von drei Millionen, und dieses Mal dürfte er noch deutlicher verlieren. Das Problem unserer Demokratie ist, dass Minderheiten unsere Amtsträger wählen dürfen. Deshalb könnten sehr weisse, sehr konservative ländliche Staaten im Senat die grossen multiethnischen Staaten überstimmen.
Dann müssen wir also auf einen klaren Sieg von Joe Biden hoffen?
Genau. Oder auf eine Mehrheit der Demokraten im Senat. Dies schien bis vor kurzem sehr unwahrscheinlich. Nun ist es zumindest möglich.
Trotzdem müssen wir uns auf das Schlimmste gefasst machen.
Allerdings. Die Amerikaner sind sich gewohnt, dass am Wahlabend etwa um 23 Uhr der Sieger feststeht. Deshalb müssen die Medien betonen, dass es Wochen dauern könnte, bis das Ergebnis vorliegt. Wenn sie Trump zum Gewinner erklären und drei Wochen später zugeben müssen, sie hätten sich geirrt, werden sie seine Angriffe auf das Wahlsystem anheizen. Man muss hervorheben, dass bei einem knappen Ergebnis am Wahltag noch Millionen Stimmen ausgezählt werden. Die Medien könnten dabei helfen, auch wenn Fox News natürlich nicht auf mich hören wird.