Frau Herzog, vor ein paar Wochen erreichten uns Bilder vom brennenden Camp Moria. Wie ist die Situation auf Lesbos jetzt?
Raquel Herzog: Im neu aufgebauten Lager sind bereits 9000 Menschen untergebracht. Währenddessen ist die schweizerische humanitäre Hilfe vor Ort. Sie sorgt sich um die Trinkwasserversorgung.
Wie sind die Bedingungen in den neuen Lagern?
Es gibt 37 Toiletten. Ich bezweifle, dass es im neuen Lager ein Abfallkonzept gibt. Zudem heisst es, dass man die Menschen nicht von der Insel evakuieren möchte, weil man nicht will, dass Geflüchtete auf anderen Inseln denken, dass mit einem abgebrannten Camp alles besser würde. Immerhin heisst es, dass nun die Asylanträge möglichst schnell bearbeitet werden.
Stehen Sie in Kontakt mit den Frauen aus Ihrem Zentrum auf Lesbos?
Nach dem Feuer hatte die Polizei alle Leute aus Moria eingekesselt. Für uns war es schwierig, in diesen «Kessel» zu gelangen und dementsprechend konnten wir die Frauen kaum finden. Unsere Einrichtung befindet sich im Zentrum von Mitilini, doch viele Frauen fürchten sich davor, in die Stadt zu kommen, aus Angst vor dem Vorwurf, aus Moria abgehauen zu sein.
Bedeutet das, dass Ihr Team keinen Zutritt zum neuen Lager hat?
Genau. Vor ein paar Tagen liessen sie einzelne Medienschaffende rein. Wir dürfen die Frauen am Eingang des Lagers treffen. Wir wissen, dass die Menschen, die negativ auf das Coronavirus getestet wurden, tagsüber das Lager verlassen dürfen.
Sie kümmern sich mit Ihrer Organisation um Frauen auf der Flucht. Warum?
Grundsätzlich sind Frauen auf der Flucht entweder vor, während oder nach der Flucht, sexueller Gewalt ausgesetzt. Man könnte also sagen, dass es entweder der Grund zur Flucht ist, oder sie werden auf der Route missbraucht, da sie alleine unterwegs sind. Oft werden sie auch in Lagern wie Moria missbraucht, weil die Schutzzonen teilweise überlastet oder inexistent sind. Frauenspezifische Bedürfnisse werden nicht berücksichtigt. Klar ist, dass an einem sozialen Brennpunkt mehr Übergriffe, als an anderen Orten passieren. Ebenso sind Frauen häufig auch aus wirtschaftlichen Gründen sexueller Gewalt ausgesetzt.
Inwiefern?
In manchen Fällen muss der Schlepper mit dem Körper bezahlt werden. Afrikanische Frauen beispielsweise werden von den griechischen Bewohnern oftmals für Prostituierte gehalten. Andere prostituieren sich aus finanzieller Verzweiflung.
Und wo setzen Sie mit Ihrer Arbeit an?
96 Prozent der Frauen, die in unsere Zentren kommen, sind Opfer sexueller Gewalt. Viele der flüchtenden Frauen werden verfolgt, oder sind Opfer von Trafficking. Gewisse flüchten auch aus patriarchalen Kulturen. In unseren beiden Zentren bieten wir den Frauen verschiedene Aktivitäten an, aber auch eine Möglichkeit, sich in Ruhe zurückziehen und beispielsweise duschen zu können. Die Zentren sind aber vor allem auf Trauma-orientierte psychosoziale Unterstützung spezialisiert.
Welche Massnahmen müssten, nebst Ihren Zentren, getroffen werden, um die Situation der geflüchteten Frauen zu verbessern?
Was wir bisher noch nicht gesehen haben, sind Schutzzonen im neu aufgebauten Lager auf Lesbos. Von diesen fehlenden Schutzzonen im Lager sind Frauen, Inter-, Transpersonen und non-binäre Menschen besonders betroffen. Dazu kommt, dass die Lager nicht auf die Bedürfnisse von Frauen ausgerichtet sind. Dies beginnt bereits bei Banalitäten: Weil aus den Duschen kaum Wasser fliesst, können Frauen mit vollem Haar nicht einmal ihr Shampoo auswaschen.
Kinder und Familien werden häufig erwähnt, wenn es um die Aufnahme von Geflüchteten geht. Von allein flüchtenden Männern ist jedoch kaum die Rede. Wer muss nun Vorrang haben?
Es gab Regelungen, in denen besonders Kinder, Familien und Frauen priorisiert und Männer in einer absolut desolaten, katastrophalen Situation zurückgelassen wurden. Das System sollte niemanden priorisieren, doch gewissen Gruppen sollte besonderer Schutz zukommen. Grundsätzlich fordern wir aber, dass die Bedingungen aller Menschen auf Lesbos verbessert werden. Und vor allem müssen die Asylanträge schneller bearbeitet werden.
Nach dem Ausbruch des Feuers waren die Medien auf einmal wieder voll mit Berichterstattungen über die Situation auf Lesbos – kommt diese Aufmerksamkeit zu spät?
Das Perverse ist ja, wie prekär die Situation werden muss, dass darüber gesprochen wird. Dieses Feuer ist für uns, die bereits seit vier Jahren auf dieser Insel sind, nicht der Grund, wieso man jetzt dorthin schauen sollte. Das hätte schon viel früher geschehen müssen. Es erstaunt mich aber trotzdem, wie wenig die Menschen in der Schweiz darüber erschrecken, dass zwei Flugstunden von uns entfernt, in Europa, die Menschenrechte massiv verletzt werden.