Saunagänge, Wodka trinken oder landwirtschaftliche Arbeit: So soll sich Weissrusslands Bevölkerung gegen das Coronavirus schützen. Mehr brauche es nicht, so der autokratische Präsident Alexander Lukaschenko.
Kein Weissrusse werde an Covid-19 sterben, sagte er. Und als der Machthaber bei einem Eishockeyspiel im April selbst auf dem Eis stand, erklärte der 65-Jährige: «Es gibt hier keinen Virus. Oder sehen Sie es hier irgendwo herumfliegen? Also ich nicht.»
Mittlerweile bestreitet selbst Lukaschenkos Regierung das Virus nicht mehr. Er forderte das Gesundheitsministerium auf, das Problem zu lösen und drohte Ärzten und Beamten, dass diese «mit ihrem Kopf» für Todesfälle haften. Massnahmen wurden aber vom Staat keine getroffen.
Die Fallzahlen der gemeldeten Neuinfektionen bewegten sich in Weissrussland tatsächlich lange auf tiefem Niveau. Doch seit Ende April nehmen sie zu – wenn auch mit einem kleinen Unterschied zu anderen Nationen: Während die Epidemie in den meisten Ländern so verläuft, dass die täglichen Fälle erst zunehmen und dann wieder abnehmen, verzeichnet Weissrussland keine solche Kurve.
Die Anzahl neuer Fälle stagniert seit Mai täglich bei knapp unter 1000. Berichte von falschen Zahlen machten schon mehrfach die Runde. Die WHO weist folgende Daten aus:
Mittlerweile ist Weissrussland mit seinen knapp 10 Millionen Einwohnern bei rund 44'000 bei der WHO gemeldeten Fällen angelangt. In Europa verzeichnen nur Russland und Grossbritannien täglich mehr Neu-Infektionen und damit eine steilere Zunahme (allerdings bei deutlich mehr Einwohnern).
Und wenn wir die Anzahl Fälle ins Verhältnis zur Einwohnerzahl setzen, steht Weissrussland mit 467 Fällen pro 100'000 Einwohner gut zwei Monate nach dem 100. Fall neu gar an der Spitze. In Spanien und der Schweiz verbreitete sich das Virus zwar erst schneller, die Kurven flachten dann aber deutlich ab, was bei Weissrussland noch weit entfernt scheint:
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Wie lebt es sich in einem Land, das keine staatlichen Massnahmen gegen das Coronavirus erlassen hat? Wir erreichen Andrej* in Minsk am Telefon. Er lebt seit Jahren in der Hauptstadt und hat einen Bürojob.
Andrej, wie läuft das Leben in Minsk?
Andrej: Eigentlich ziemlich normal. Vor allem seit Mai wieder.
Was geschah?
Wir haben ja vom Staat keine Einschränkungen erhalten. Im April begannen dann viele selbst für Social Distancing zu sorgen. Einige Unternehmen erliessen Regeln oder schlossen. Aber seit Mai kehrt mehr und mehr das normale Leben zurück.
Wieso?
Ich glaube, man orientiert sich vor allem am Ausland, wo viele Länder Europas das Gröbste überstanden haben. Und natürlich geht es auch um die Wirtschaft. Viele können es sich einfach nicht leisten, geschlossen zu bleiben.
Präsident Alexander Lukaschenko spottete erst über das Virus, danach gestand er ein, dass es zumindest «existiert». Wie erlebst du Lukaschenko während der Krise?
Ich möchte mich nicht über die Politik äussern. Ich weiss, das Interview ist anonym, aber ich äussere mich nicht öffentlich über ihn.
Fest steht aber: Weissrussland gab keine staatlichen Massnahmen gegen das Coronavirus vor.
Genau, staatlich gab es keine Restriktionen. Doch wie gesagt: Die Einwohner handelten danach selbst. Einige Restaurants verkürzten ihre Öffnungszeiten, es wird mehr Essen nach Hause bestellt, die Menschen bleiben Zuhause, der öffentliche Verkehr wird weniger benutzt, all diese Dinge legten viele von uns sich selbst auf. Zumindest während einer kurzen Zeit.
Am 9. Mai liess Lukaschenko die Parade zum 75. Jahrestages des Sieges über Nazi-Deutschland durchführen – ohne irgendwelche Massnahmen. Wie war das?
Ich wohne da ziemlich in der Nähe und sah die Parade von zuhause aus. Die Tribünen waren voll wie immer, aber ansonsten hatte es deutlich weniger Leute vor Ort. Wie gesagt: Die Menschen schützten sich selbst.
Ich las, dass die Schulen geschlossen blieben.
Ja genau, das Bildungsdepartement hat die Frühlingsferien um drei Wochen verlängert. Zumindest hier in Minsk. Mittlerweile gehen die Kinder aber wieder zur Schule. Aber wenn die Eltern dies nicht wollen, können sie die Kinder noch zuhause behalten, wie mir Freunde mit Kindern sagten.
Wie sieht es in deinem Büro aus?
Unser Chef hat selbst Massnahmen ergriffen. Wir arbeiten noch immer mehrheitlich im Home Office. Zwischendurch muss ich für bestimmte Arbeiten ins Büro. Allerdings wohne ich nahe genug, dass ich zu Fuss gehen kann und den ÖV nicht benutzen muss.
Trägst du eine Maske?
Ja, in der Öffentlichkeit schon. Ich merke allerdings, wie die Leute mich deswegen in den letzten Tagen wieder eher anstarrten im Sinn von: Warum machst du das?
Nehmen wir an, du stellst Symptome fest und willst dich auf Covid-19 testen lassen. Ist das möglich?
Grundsätzlich schon. Allerdings musst du beim Arzt dazu viele Fragen beantworten. Es ist nicht ganz einfach, wie ich gehört habe.
Und was passiert bei einem positiven Fall?
Bei uns im Büro müsste sich diese Person isolieren und die nächsten Kontakte ebenfalls. Es gibt auch eine Art Contact Tracing. Aber wie gesagt, das ist nicht überall so.
Für Aufsehen sorgte bei uns auch, dass die weissrussische Fussball-Liga den Betrieb nicht eingestellt hat und noch läuft.
Das ist so. Allerdings sind deutlich weniger Fans im Stadion als normal.
Du hast es schon erwähnt, mit ein Grund dafür, dass die Restriktionen vom Staat ausblieben, ist die Wirtschaft. Warum?
Der Wirtschaft in Weissrussland geht es allgemein nicht gut. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit ist gross. Das hängt alles zusammen. In Weissrussland ist der landwirtschaftliche Sektor sehr gross, die Bauern mussten sowieso weiterarbeiten. Wir sind Russlands Kornkammer.
Die Grenze blieb auch immer offen.
Ja, nach Weissrussland kann man einreisen. Aber da die Nachbarländer alle die Grenzen schlossen, konnte trotzdem praktisch niemand aus dem Land. Ich kenne viele Menschen in Russland und reise da normalerweise immer mal wieder hin. Das konnte ich jetzt nicht.
Wie glaubst du, dass es in Weissrussland mit dem Virus weitergeht?
Schwierig zu sagen. Die täglich neuen Fälle bleiben relativ konstant. Ich hoffe, sie nehmen bald ab. Ich bin nicht sehr besorgt. Wenn ich auf die Zahlen aus anderen Ländern schaue, sieht die Entwicklung da meist gut aus.
*Name geändert. In Weissrussland fürchten sich viele vor der Regierung.