«Meine Familie sagt, ich soll mich so lange wie möglich verstecken. Aber wenn ich jetzt in Myanmar wäre, würde ich auf die Strassen gehen, protestieren und den verletzten Menschen helfen», sagt San. Der 32-jährige Arzt aus Myanmar, ausgebildet um Leben zu retten, verfolgt täglich aus der Ferne, wie Menschen in seiner Heimat im Konflikt mit der Militär-Diktatur auf den Strassen sterben.
Zusammen mit seinem Berufskollegen Youn verliess er Myanmar Ende 2020 für eine Ausbildungsreise. Am 1. Februar 2021 putschte das Militär. Die beiden Ärzte wissen: Wenn sie jetzt nach Myanmar zurückreisten, würde sie das Militär noch an der Grenze verhaften. Zu ihrem Schutz sagen sie deshalb nicht, wo sie sind und wie sie wirklich heissen.
Im südostasiatischen Land, das früher Burma hiess, herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Seit bald drei Monaten protestiert die zivile Bevölkerung täglich und landesweit gegen die Militärjunta. Die Bewegung «Civil Disobedience Movement» fordert, dass die zivile Regierung wieder eingesetzt und ihre De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi freigelassen wird.
Das Militär geht immer härter und gezielter gegen die Protestierenden vor. Die Zahl der Toten schätzt die Gefangenenhilfsorganisation AAPP inzwischen auf 739, darunter etwa 50 Kinder. Mehr als 3300 Junta-Gegner:innen sitzen in Haft.
Auch Mediziner:innen stehen im Fokus des Militärs. Die deutsche Presseagentur meldete vergangene Woche, dass die Junta inzwischen gegen 20 Ärzt:innen Haftbefehle ausgestellt hat. Bereits kurz nach dem Putsch protestierten Angestellte aus Spitälern, Kliniken und Laboratorien gegen die neuen Machthaber, berichtete «Frontier Myanmar».
Unter den Gesuchten sei auch der ehemalige Chefarzt von Youn und San. «Er ist jetzt auf der Flucht, wie viele andere unserer Kolleg:innen», sagt San. Bis jetzt seien drei Ärzte bei den Protesten ums Leben gekommen, über 50 sässen im Gefängnis.
Seine Familie sei bis jetzt unversehrt, erzählt San. Er ist verheiratet. Seine Frau ist im sechsten Monat schwanger mit ihrem ersten Baby. Youn hingegen erzählt wenig von seiner Familie. Seine Eltern würden wie San's Frau in Myanmar leben. Angst um sie hätten aber beide nicht. «Sie halten sich von den Protesten fern», sagt San.
Viel mehr sorge er sich um seine Freunde aus dem Spital, in dem San und Youn angestellt sind. «Die Soldaten, die ‹Tatmadaw›, besetzten die Spitäler und verhaften Gesundheitspersonal, wenn sie verletzten Protestierenden helfen wollen», erzählt Youn.
Youn hat jeden Tag Kontakt mit seinen Ärzte-Kolleg:innen. «Wir kommunizieren über Telegram. Da kann das Militär nicht mitlesen», sagt der 39-Jährige.
Während dem Gespräch antwortet meistens Youn. Er ist der ältere der beiden Ärzte. Wenn er spricht, tut er das sehr ruhig und bestimmt. Seine dunkelbrauen Augen blicken dabei seitlich zu Boden. Nur gegen Ende seines Satzes schaut er dem Gegenüber direkt ins Gesicht. Wohl um sicherzugehen, ob das, was er sagte, wirklich verstanden wurde.
Aus Not habe man «mobile Kliniken» ins Leben gerufen, erzählt Youn weiter. Ambulanz-Fahrzeuge oder offenen Zelte, die auf den Strassen aufgestellt würden. «Sie sind nur spärlich ausgestattet», sagt Youn. Viel mehr als Verbandszeug, Schmerzmittel und Schienen, um einen Knochenbruch zu stabilisieren, sei nicht vorhanden.
Eine schwer verletzte oder angeschossene Person würden die Ärzt:innen in den Ambulanz-Fahrzeugen operieren. Meistens kommen sie aber nicht nach: «Eine Operation dauert zum Teil drei bis vier Stunden», sagt Youn. An schlimmen Tagen würden bis zu 15 Patienten pro Minuten kommen. «Mein Kollege ist sehr enttäuscht, weil er mit den Operationen nicht nachkommt. Er sagte zu mir: Wenn ich mein Skalpell gegen einen Soldaten richten würde, könnte ich mehr Leben retten.»
«Wichtig ist, dass man die Kliniken möglichst schnell zusammenräumen kann, wenn die Tatmadaw kommen.» Youn zeigt ein Video und erklärt: «Die Soldaten beschlagnahmen die Krankenwagen, wenn sie sie entdecken. Das Personal und die Patienten zerren sie raus und nehmen sie fest.»
Youn lässt noch mehr Videos abspielen. Junge Männer in zivil, die auf offener Strasse von der vorbeifahrenden Polizei aus Autos heraus erschossen werden. Nächstes Video: Ein Mann wird im Innenhof von sieben Soldaten eingekesselt und beim Fluchtversuch über die Mauer erschossen.
Es folgen Bilder von Schusswunden an Rücken und Hinterköpfen. «Metal Bullets», die sich tief in die Haut gebohrt haben. «Meine Kollegen schicken mir Bilder, wenn sie Rat bei einem Eingriff brauchen. Aber vor allem dienen sie als Beweismittel», sagt Youn. Beweis für wen? «Falls das Militär in Zukunft behaupten sollte, die Protestierenden hätten sie angegriffen oder sich die Wunden selber zugefügt.»
Myanmar steht nicht zum ersten Mal unter Militärherrschaft. Seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1948 putschte das Militär drei Mal, erstmals im Jahr 1962. Ab dann war meistens das Militär an der Macht und schottete das Land hinter dem sogenannten Teak-Vorhang von der Welt ab.
Mit den Ende 2010 abgehaltenen Wahlen endete die Militärdiktatur in Myanmar offiziell. Das rohstoffreiche Land, in dem mehr als 130 Ethnien leben, begann, sich zu erholen und zu florieren.
«Vor dem Putsch ging es uns sehr gut», erzählt Youn. «Die Medizin war hauptsächlich mit der Bekämpfung von Covid-19 beschäftigt. Wir planten, alle Menschen bis Ende April zu impfen. Wenn der Putsch nicht gewesen wäre, hätten wir das wohl auch geschafft. »
Nun seien die Labore geschlossen, Corona-Tests würden keine durchgeführt. «Wir haben keine Ahnung, wie viele Leute sich jeden Tag mit Covid-19 anstecken», sagt Youn.
Der Fortschritt der letzten Jahre werde durch den erneuten Putsch bedroht, sagt Youn. Auf die Frage, ob es Momente der Hoffnung gäbe, reagieren die beiden Ärzte mit einem langen Schweigen. «We lost hope», sagt Youn schliesslich.
Was die Leute auf die Strasse treibe, sei auch nicht Hoffnung. «Wir können das Militär als Staatsoberhaupt nicht akzeptieren», sagt San. Er blickt ins Leere und resigniert kurz. «Wir wollen nicht.»
Ein Faktor unterscheidet die heutige Protestbewegung fundamental von den früheren: das Smartphone. Die zivile Protestbewegung organisiert sich stark über die sozialen Netzwerke. Auf Facebook und Twitter posten sie ausserdem Videos und Bilder.
Ausserdem schicken die Protestierenden regelmässig Botschaften an internationale Organisationen wie etwa die UNO. Die Sonderbeauftragte Christine Schraner Burgener sagte an einer Online-Pressekonferenz, dass sie täglich über 2000 Nachrichten erhalte. Dadurch wächst auch der internationale Druck auf Myanmar: So hat die USA bereits ihre Handelssanktionen gegen die Militärregierung verschärft.
Früher habe das Militär einfach den Informationsfluss nach aussen gekappt, sagt Youn. Das können sie jetzt nicht mehr. «Durch die Bilder und Videos erfährt die ganze Welt von der Grausamkeit der Tatmadaw.»
Ob sich die Situation in Myanmar bald ändert und die zivile Regierung zurückkehrt, ist unklar. «Ich hoffe, dass wir in ein paar Monaten wieder nach Hausse können», sagt Youn.
Momentan bleibt den beiden Ärzten nicht viel mehr übrig, als täglich die Nachrichten zu verfolgen. Das Militär strahlt im Staatsfernsehen jeden Abend die Bilder von Gesuchten aus, eine schwarze Liste. Angst, dass sie eines Tages auf der Fernseh-Bildschirm erschienen, haben San und Youn nicht. Im Gegenteil: «Ich wäre stolz, wenn mein Gesicht auf der Liste wäre», sagt San. «Dann wüsste das ganze Land, dass auch ich gegen das Militär kämpfe.»
Ich bin erschüttert, und hoffe, dass sich die gesunden Kräfte doch so bald als möglich durchsetzen mögen...