Feudalherren fürchten um Einfluss, Politiker beklagen Manipulationen, Parteien führen Propagandakriege - Pakistans erste Volkszählung seit fast 20 Jahren könnte helfen, das Leben von Millionen Menschen zu verbessern. Aber der Zensus wird auch Macht nehmen und geben.
Der Herr über den Zensus hat einen schweren Packen Papier vor sich liegen, alles Zeitungsartikel. Grellgrüne Merkzettel ragen an einer Seite hinaus. Wütend sticht Asif Bajwa, Pakistans Chef-Statistiker, mit einem Kugelschreiber auf das oberste Blatt ein. «Das ist das erste, was ich heute tun muss», sagt er - «eine Entgegnung schreiben. Wieder mal.»
Ab kommendem Mittwoch zählt Pakistan, eines der bevölkerungsreichsten und ärmsten Länder der Welt, seine Menschen - und wöchentlich schwirren neue Verschwörungstheorien durch die Gegend.
Eigentlich soll der erste Zensus seit fast 20 Jahren endlich Klarheit schaffen darüber, wie viele Menschen im Land sind, wo und wie sie leben. Die letzte Volkszählung gab es 1998 und damals waren 132 Millionen Pakistaner registriert worden. Heute sollen es um die 200 Millionen sein.
Diese Mega-Übung in Statistik dauert zehn Wochen und wird im Staat der vielen Extremisten gesichert von 175'000 Soldaten. 91'000 Zähler sollen ab Mittwoch 168'200 sogenannte Blöcke mit bis zu 250 Häusern ablaufen und Familienoberhäuptern Fragen stellen zur Zahl der Kinder, zu Alter, Bildungsgrad, Religion oder Muttersprache.
Die Daten helfen der Regierung dann zum Beispiel zu verstehen, wo der massive Trend der Verstädterung am stärksten ist, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist oder mehr Kinder geboren werden. Solches Wissen wiederum hilft, zumindest theoretisch, Lebensbedingungen zu verbessern.
«Die Daten zum Alter zum Beispiel sagen der Regierung, ob sie in einem Gebiet besser Schulen oder Kliniken eröffnet», sagt Nancy Stiegler, eine südafrikanische Professorin für Demografie und UNO-Beraterin, die bei der Zensus-Vorbereitung hilft. «Es ist wirklich eine rein technische Angelegenheit.»
Aber: Die Zensusdaten haben so eben letztlich auch Einfluss auf die Verteilung von Ressourcen an Gemeinden, auf die Zahl der Jobs in Provinzregierungen und vor allem die Sitze im Parlament. Und damit ist die Volkszählung zum Polit-Drama geworden.
Feudale Landbesitzer fürchten um Einfluss, weil die Daten nun Schwarz auf Weiss belegen werden, dass die Städte an Bedeutung gewinnen. Lokalpolitiker wollen angeblich Druck auf Zähler ausüben, damit diese ja die «richtigen» Werte aufschreiben, Parteien führen Propagandakriege.
Der Artikel, auf den Chef-Statistiker Bajwa so wütend eingestochen hat, berichtet zum Beispiel über die Oppositions-Partei MQM (Muttahida Qaumi Movement), die sich gleich beim Obersten Gericht beschwert hatte, dass die Regierung den Zensus manipulieren wolle.
Sie habe die Zahl der zu zählenden Blöcke in der 20-Millionenstadt Karachi und anderen Städten in der Provinz Sindh gegenüber dem alten Zensus verringert, was auch Einfluss habe auf die Zahl und Begrenzungen der Wahlkreise. Die urbanen Zentren von Sindh sind die Machtbasis von MQM. Und 2018 sind Wahlen in Pakistan.
In Punjab wiederum könnte die Machtbasis des mächtigen Politclans um Ministerpräsident Nawaz Sharif schrumpfen. Rund 100 Millionen Menschen sollen in dieser Provinz leben. Bevölkerungsübermacht sei schon immer Punjabs Trumpf im Ringen um den «Löwenanteil von Macht und Ressourcen im Land» gewesen, schreibt der Demograf Mansoor Raza in einer Analyse für die Zeitung «Dawn».
Allerdings habe es dort seit dem letzten Zensus unter anderem durch Urbanisierung und mehr Bildung enorme soziale und ökonomische Veränderungen gegeben - und die hätten das Bevölkerungswachstum verlangsamt.
Der Zensus könne also durchaus in weniger Sitzen im Parlament resultieren oder in weniger Geld für die Provinz, schreibt Raza.
In der unruhigen Provinz Baluchistan wiederum fordert der Leiter der National-Partei, Mir Hasil Bizenjo, vor dem Zensus noch schnell Hunderttausende afghanische Flüchtlinge abzuschieben. Den Zensus zu halten, während noch alle diese Paschtunen da seien, das würde ja die Baluchen im eigenen Land zur Minderheit machen.
Die Baluchen fühlen sich schwer diskriminiert von der Regierung. Separatisten kämpfen unter anderem um mehr Mitsprache im Staat. Sollten sie finden, dass mit dem Zensus ihre ethnische Gruppe weiter marginalisiert wird - es könnte die Extremisten noch anstacheln.
Dabei hatte die Regierung aus Sorge vor mehr Konflikten im Staat absichtlich keine Frage zur Ethnie in den Zensus aufgenommen. «Allerdings ist da eine Frage zur Muttersprache - und die kann natürlich instrumentalisiert werden», sagt UNO-Beraterin Nancy Stiegler.
Ob Familien daheim Urdu, Paschto oder Baluchi sprechen, wird zur Überlebenssache. Keine ethnische Gruppe will an Einfluss verlieren mit der Volkszählung. Der Einzelne zählt in Pakistan nicht viel. Nur in der Masse sind die Menschen Macht. (cma/sda/dpa)