Am Wochenende sah es ganz kurz so aus, als sei es mit der schwedischen Freiheit vorbei. Medien meldeten, dass die Polizei in Stockholm erste Restaurants geschlossen hätte, Anzeichen für einen grossflächigen Lockdown? Nein. Die Zahl der betroffenen Läden machte bald deutlich, dass es sich um Einzelfälle handelt: Lediglich fünf Restaurants mussten dichtmachen, weil sie gegen Abstandsregeln verstossen hatten. Von einem Kurswechsel ist Schweden noch immer weit entfernt.
Seit Beginn der Covid-19-Pandemie in Europa blickt die ganze Welt auf Schweden. Denn während Länder wie China , Neuseeland und Dänemark das Virus mit rigorosen Massnahmen wie Ausgangssperren und Ladenschliessungen unter Kontrolle brachten, entschied sich die schwedische Regierung für ein Modell, das auf sanfte Massnahmen und Vertrauen setzt.
Die Reaktionen auf diese Entscheidung fielen von Anfang an gespalten aus, reichten von Skepsis bis Anerkennung. In den letzten Wochen sind die Zahlen der Covid-19-Toten in Schweden aber rasant gestiegen. Zuletzt richteten sich knapp 2'000 Wissenschaftler mit einem eindringlichen Appell an die Regierung und forderten einen Kurswechsel. Ist die schwedische Alternative gescheitert?
Diese Frage ist höchst umstritten. In der Debatte um Lockdown und Lockerung wird kein Land so stark instrumentalisiert wie Schweden. Denen, die die Corona-Schutzmassnahmen für übertrieben halten, dient Schweden als Beweis, dass es möglich ist, die Corona-Krise ohne Ladenschliessungen und Ausgangssperren zu durchstehen. Den Lockerungskritikern dienen wiederum die hohen Todeszahlen als Beleg, dass es fatale Folgen haben kann, die Vor-Corona-Normalität aufrechtzuerhalten.
Was in der Debatte um Schweden untergeht, ist die Tatsache, dass der vermeintliche Sonderweg gar nicht so besonders war. Letztlich verfolgt Schweden denselben Ansatz wie die anderen Länder: die Zahl der Corona-Infizierten so gering zu halten, dass das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Allerdings weicht Schweden in zwei Punkten von dem Vorgehen anderer Länder ab.
Erstens war Schweden von Anfang an durchaus bereit, das Gesundheitssystem voll auszulasten. Im Gegensatz zu anderen Ländern, die es so wenig wie möglich strapazieren wollten. Zwar setzt Schweden nicht – wie oft behauptet – auf Herdenimmunität. Denn die Regierung versucht, nicht mehr Menschen erkranken zu lassen, als das medizinische System des Landes tragen kann. Trotzdem hoffen die Gesundheitsexperten des Landes, dass dank dieser Strategie genug Menschen die Infektion im Herbst überstanden haben werden, um eine zweite Welle zu vermeiden. Das ist zumindest gewagt: Denn wie lange die Immunität nach einer Covid-19-Erkrankung anhält, weiss niemand.
Zweitens vertraut die Regierung des skandinavischen Landes konsequent auf die Vernunft der Bevölkerung: «Wir glauben, wir erreichen mit Freiwilligkeit genauso viel wie andere Länder mit Restriktionen», sagte Anders Tegnell, der oberste schwedische Staatsepidemiologe, noch in der letzten Woche.
Tegnell hat diese ungewöhnliche Strategie entworfen. In der schwedischen Öffentlichkeit ist er das Pendant zum deutschen Virologen Christian Drosten – zumindest, was seine Beliebtheit angeht. Kürzlich tätowierte sich sogar ein Schwede das Gesicht des Experten auf seinen Arm, wie die Nachrichtengentur AFP meldete. Doch in ihrer Überzeugung und in ihrer Rolle weichen Drosten und Tegnell stark voneinander ab. Während der deutsche Virologe immer wieder betont, er sei als Wissenschaftler nicht für politische Entscheidungen zuständig, arbeitet Tegnell für die Schwedische Behörde für öffentliche Gesundheit. Er ist der offizielle Coronavirus-Berater der schwedischen Regierung. Und die hört auf ihn.
Doch die steigenden Todeszahlen zeigen, dass Tegnells Strategie immer mehr Opfer fordert. Am 27. April stieg die Zahl der Covid-19-Toten in Schweden auf 2'274. Zum Vergleich: In Dänemark waren es am selben Tag 427 Todesfälle, Norwegen meldete 205 Coronavirus-Tote, in Finnland starben bislang 193 Menschen an Covid-19 – bei jeweils halb so vielen Einwohnern wie Schweden. Führt der schwedische Weg in eine Katastrophe?
Besonders die Ausbrüche in Altenheimen tragen erheblich zu diesen hohen Zahlen bei: Mehr als 40 Prozent der Coronavirus-Toten in Schweden sind auf die Pflegeeinrichtungen zurückzuführen. Und sogar Tegnell gab in einem Interview zu, die Schwierigkeiten in den Heimen unterschätzt zu haben.
Vermutlich gibt es noch deutlich mehr Coronavirus-Opfer. Schweden zählt in der Statistik nur diejenigen, die in einem Krankenhaus positiv auf den Erreger getestet worden und dann verstorben sind. Bereits Verstorbene werden nicht auf das Virus überprüft. Zudem zeigen Erhebungen des Projekts Euromomo, dass in Schweden derzeit deutlich mehr Menschen sterben als im Durchschnitt. Das deutet darauf hin, dass die Dunkelziffer der Coronavirus-Toten hoch sein dürfte.
Diese Zahlen scheinen auch die schwedische Regierung zu beunruhigen. Ende März hatte der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven den schwedischen Weg klar verteidigt: «Wir alle müssen als Individuen unsere Verantwortung übernehmen.» Man könnte nicht alles gesetzlich regeln und verbieten. Letzte Woche schlug Löfven dann einen anderen Tonfall an. «Die Gefahr ist noch lange nicht vorbei», sagte er bei einer Pressekonferenz. Allen Gastronomen müsse klar sein, «dass Restaurants und Bars geschlossen werden, wenn man sich nicht an die Regeln hält.» Am Wochenende folgten dann die Schliessungen in Stockholm – eine Warnung.
In Kritik gerieten zuletzt auch die schwedischen Gesundheitsexperten: Letzte Woche unterliefen ihnen unabhängig voneinander zwei peinliche Fehler, wie die Tagesschau berichtete. Bei dem Versuch, die Zahl der Corona-Immunen in Schweden zu errechnen, rutschten den Experten möglicherweise falsche Proben in ihre Erhebung. Zuvor war aufgrund dieser Studie behauptet worden, dass 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung bereits eine Infektion überstanden hätten. Diese Annahme ist jetzt hinfällig.
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Und auch der Staatsepidemiologe Tegnell hatte sich verrechnet. Er hatte in einer Pressekonferenz behauptet, dass auf einen nachgewiesenen Corona-Infizierten in Schweden eine Zahl von 999 unerkannten Fällen komme. Das Problem: Das hätte bedeutet, dass es in Stockholm bereits mehr als sechs Millionen Infektionen gab – obwohl nur eine Millionen Menschen in der Stadt leben.
Trotzdem ist eine Kursänderung in Schweden nicht in Sicht. Ob er mit seiner Strategie zufrieden sei, wurde Tegnell letzte Woche in einem Interview gefragt. «Ja! Wir wissen, dass Covid-19 für sehr alte Menschen sehr gefährlich ist, was natürlich schlecht ist», sagte er auf die Frage, «aber wenn man sich Pandemien anschaut, gibt es deutlich schlimmere Szenarien als dieses hier.» In welches Szenario das schwedische Modell das Land noch führen wird, wird erst die Zeit zeigen.
Die Wahrscheinlichkeit ist aber gross, dass man irgendwann das öfffentliche Leben doch noch mehr einschränken muss.
Es kann gut sein, dass die schwedische Strategie unterm Strich gleich gut abschneiden wird, wie jene in der Schweiz oder Deutschland. Evtl. schneidet sie sogar besser ab. Das heisst aber nicht, dass es auch eine gute Strategie für andere Länder gewesen wäre. Höchstens vielleicht für die anderen skandinavischen Länder.
Kann man so machen. Ob es moralisch vertretbar ist müssen jeder für sich entscheiden.