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Wieso sich die Menschen im Norden Syriens von der Welt verlassen fühlen

Wieso sich die Menschen im Norden Syriens von der Welt verlassen fühlen

Bild: AP
Zwei Monate nach dem Einmarsch der Türken ist der Alltag für die Menschen in Nordsyrien so gefährlich wie nie zuvor. Eine Reportage.
12.12.2019, 05:1912.12.2019, 06:53
Cedric Rehman, Qamishli / ch media
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In der Hölle müsse es einen besonderen Platz geben für die Christen aus Europa, sagt Fadi Sabri Habsoori. Der syrische Christ sitzt im Alsalam-Spital in der nordsyrischen Stadt Qamishli am Krankenbett seiner Frau Juliette.

Die Retter zogen sie nach einem türkischen Luftangriff aus den Trümmern ihres Hauses. Ihre Wirbelsäule war gebrochen, ihre Beine wird sie nie wieder bewegen können. Die 32-Jährige starrt ins Leere und stöhnt. Die Klinik muss sparsam mit Schmerzmittel umgehen. Denn wer weiss, was in den kommenden Wochen noch auf Nordsyrien zukommt.

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Ein Haus im Qamishli brennt nach einem türkischen Angriff.Bild: AP

Fadi Sabri Habsoori selbst hält sich eine vernähte Wunde am Bauch. Er schaut zur Seite, als ein Reporter aus Europa den Raum betritt. Mit Ausländern aus dem Westen spreche er nicht, sagt er. Die christlichen Länder im Westen trügen schliesslich die Schuld daran, dass Christen wie er in Syrien nun in der Falle sässen.

«Ich will fliehen. Aber wie soll ich in meinem Zustand meine Frau tragen?»

Fadi fürchtet sich vor dem Krieg, vor den umherziehenden Rebellen. Die Kämpfe zwischen den Kriegsparteien dauern auch zwei Monate nach dem Einmarsch der Türken in Nordsyrien noch immer an. Für ihn seien das alles Dschihadisten, sagt Habsoori. Jeder im Westen wisse doch, was deren Herrschaft für Christen bedeute. Der 38-Jährige wäre mit seiner Frau und seinen Kindern längst in die benachbarte Autonome Kurdenregion im Nordirak geflohen. «Aber wie soll ich in meinem Zustand meine Frau tragen?»

Local forces secure the area after a car bomb blast in the city of Qamishli, northern Syria, Monday, Nov. 11, 2019. Three car bombs went off Monday in then city killing several and wounding tens of pe ...
Prekäre Zustände nach einer Bombenexplosion in Qamishli.Bild: AP

Die Dinge sind kompliziert in der Hauptstadt des Gebietes, das die Kurden Rojava nennen. Die Truppen des syrischen Machthabers Assad zogen sich nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 aus dem Nordosten des Landes zurück. Kurdische Milizen übernahmen die Kontrolle im Nordosten des Landes und errichteten eine de facto autonome Region. Später kämpften sie gemeinsam mit den USA gegen den «Islamischen Staat», bis Donald Trump seine Truppen abzog und die Türken brutal gegen die zurückgebliebenen kurdischen Kampfverbände vorgingen.

Kinder hüpfen rund um den Bombenkrater

Die syrische Regierung behielt während der ganzen Zeit die Kontrolle über Teile der Stadt Qamishli. Doch für die Menschen vor Ort sorgen, das kann sie nicht. Schmerz- und Narkosemittel, Antibiotika, Blutkonserven: Alles, was Ärzte benötigen, um Schwerverletzte zu retten, geht langsam aus. Die Kliniken sind voll mit verletzten Soldaten. Den Zivilisten bleiben nur die wenigen privaten Kliniken wie das Alsalam-Krankenhaus, wo sie kostenlos behandelt werden.

Ein Teufelskreis: Ohne Einnahmen fehlt das Geld, um die dringend benötigten Medikamente zu beschaffen. «Wenn der Krieg weitergeht, sind wir erledigt», sagt Ablisam al Mohamed, Direktorin der Alsalam-Klinik.

Einige Strassen vom Alsalam-Krankenhaus entfernt, erinnert sich Edris Sheik Musa an die Stille nach dem ersten Luftangriff auf Qamishli. Ein Mörsergeschoss schlug vor seinem Haus ein.

Der Angriff schuf die erste Märtyrerin dieses Krieges, das Mädchen Sara. Die Nachbarskinder spielten auf der Strasse, während ihre Eltern hektisch Kleidung und Papiere für die Flucht zusammenpackten. «Sie sahen den Angriff nicht kommen», erzählt Musa.

Der Mörser zerfetzte den Sohn der Nachbarn. Seine Schwester Sara lag schwer verletzt in ihrem Blut. Jetzt hüpfen Musas eigene Kinder um den mit Regenwasser gefüllten Krater, den der Mörser in den Asphalt gerissen hatte.

Musa steht daneben und sagt, auch er habe alles zurechtgelegt für die Flucht. Er traue dem Abkommen zwischen der Türkei und Russland nicht, das den Krieg beenden sollte. Es sieht vor, das sich die Kurdenmiliz aus einem 120 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Streifen von der türkischen Grenze zurückzieht und russisch-türkischen Patrouillen Platz macht. Der Rückzug ist mittlerweile beendet.

Doch rund um die Stadt Tell Tamer westlich von Qamishli wird weiter gekämpft. Die Kurdenmiliz hindert die Menschen an der Flucht. Leere Ortschaften sind leichter vom Gegner einzunehmen.

Musa sitzt wie alle anderen hier in der Falle. Der einzige Weg aus Rojava heraus sind teure Schmuggler. Doch Musas Budget für die Flucht wird von Tag zu Tag kleiner. «Schon allein für Brot zahlen wir inzwischen das Doppelte», sagt er.

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Russische Soldaten in Qamishli.Bild: EPA

Schuld ist Sultan Saladin

Qamishli erinnerte in den vergangenen Jahren an das Berlin von 1945. Die Stadt war in Sektoren aufgeteilt, die von der Kurdenmiliz oder der syrischen Armee kontrolliert worden sind.

Doch nach dem Beginn der türkischen Militäroperation und der von Trump und Putin vermittelten Waffenruhe wirkt die Stadt heute wie das Berlin auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs. Zuerst tauchten die Russen in der Stadt auf.

Vor einigen Wochen kamen plötzlich auch die amerikanischen Truppen wieder zurück. Ihre Flagge versteckten sie. Sie wollen sie wohl nicht mehr zum Ziel von faulen Tomaten machen. Mit ebensolchen wurden sie verabschiedet, als sie nach Trumps Telefonat mit Erdogan vor einigen Wochen Hals über Kopf die Stadt verlassen hatten.

«Und die Russen werden uns genauso fallen lassen wie die USA, wenn die Türken ihnen etwas bieten.»

An einem Tisch in einer Shishastube sinniert eine Gruppe Männer über die ausweglose Situation. Statt Ersparnisse zu horten wie andere in Qamishli, verqualmen sie ihr Geld lieber hier. Die Zukunft Rojavas sehen sie ohnehin in Rauch aufgehen. Keiner glaubt, dass das syrische Regime weniger anstrebe als die völlige Kontrolle über Rojava. «Und die Russen werden uns genauso fallen lassen wie die USA, wenn die Türken ihnen etwas bieten», meint Bashar.

Sein Freund, der Jeside Shirko Esa, gibt aber nicht den Russen oder den Amerikanern die Schuld am Schicksal Rojavas. Schuld sei die Geschichte. Esa ist überzeugt, dass der Westen den Kurden die Eroberung Jerusalems durch den kurdischstämmigen Sultan Saladin 1187 nicht verzeihen kann. Deshalb bestrafe er sie nun durch Verrat, meint Esa. Und dann zitiert er einen in diesen Tagen von vielen in Rojava geäusserten Satz: Die Kurden hätten auf der Welt nur einen verlässlichen Verbündeten, die Berge. (mim/aargauerzeitung.ch)

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13 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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fools garden
12.12.2019 07:19registriert April 2019
Wo's nichts zu Holen gibt, gibts auch nichts zu Helfen.
Bittere Realität.
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LieberTee
12.12.2019 09:46registriert Dezember 2017
Was interessieren uns die Probleme von Syrien, Afghanistan, Libanon, Irak, Iran, Afrika oder Südamerika... wir sind doch alle im Weihnachtsstress und müssen schauen, dass die Geschenke rechtzeitig unter dem Baum liegen.
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