Wo steckt eigentlich Joe Biden? Seit die Coronakrise Mitte März auch in den USA mit voller Wucht ausgebrochen ist und schlimmer wütet als in jedem anderen Land, war der frühere Vizepräsident weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Denn das Virus brachte auch den Wahlkampf für die US-Präsidentschaft zum Erliegen. Viele anstehenden Vorwahlen wurden verschoben.
Vereinzelt fanden sie statt, wie letzte Woche in Wisconsin unter skandalträchtigen Umständen. Biden gewann klar. Weil er mit 77 Jahren zur Risikogruppe gehört, verschanzt er sich seit Beginn der Krise in seinem Haus in Wilmington in seinem Heimatstaat Delaware. Obwohl im Keller ein improvisiertes Fernsehstudio eingerichtet wurde, hatte er Mühe, sich bemerkbar zu machen.
Das hat sich in den letzten Tagen geändert. Am Montag stellte sich Bernie Sanders, der seinen Wahlkampf letzte Woche eingestellt hatte, in einer gemeinsamen Videobotschaft hinter Joe Biden. Tags darauf folgte Ex-Präsident Barack Obama. «Joe hat den Charakter und die Erfahrung, uns durch eine unserer dunkelsten Zeiten zu führen», sagte er in Anspielung auf die Coronakrise.
Im Fall von Sanders war die Unterstützung auch ein Eingeständnis seines eigenen Scheiterns. Er hatte im Wahlkampf stur an seiner Agenda festgehalten und es versäumt, um Stimmen aus der Mitte zu werben, obwohl die Vorwahlen gezeigt hatten, dass eine Mehrheit der demokratischen Basis keine linken Experimente will. Sie möchte Donald Trump aus dem Weissen Haus verjagen.
Gleichzeitig will der Senator aus Vermont wohl ein Drama wie vor vier Jahren vermeiden, als er und Hillary Clinton sich bis zuletzt bekriegt hatten. Sanders stellte sich am Ende nur halbherzig hinter seine Rivalin, worauf viele seiner Anhänger am Wahltag zu Hause blieben oder sogar für Trump stimmten. So etwas soll nach dem Willen von Sanders nicht noch einmal passieren.
Für Obama wiederum ging es auch um Wiedergutmachung. Er hatte 2016 wesentlich dazu beigetragen, dass sein Vize auf eine Kandidatur verzichtete, um die Wahl von Clinton zur ersten Präsidentin der USA zu ermöglichen. Das ging gründlich schief. Nun hatte sich der Ex-Präsident schon während den Vorwahlen als «Strippenzieher» um einen Schulterschluss hinter Biden bemüht.
Dieser ist nun so gut wie vollzogen. Eigentlich fehlt nur noch die Unterstützung von Elizabeth Warren, und die soll laut CNN noch am Mittwoch erfolgen. Damit haben sich die Demokraten, bei denen man zu Jahresbeginn einen langen und zermürbenden Vorwahlkampf befürchtet hatte, unerwartet rasch auf einen Kandidaten geeinigt. Dennoch gibt es für Joe Biden noch einiges zu tun.
Denn die linke Fangemeinde von Bernie Sanders bockt weiterhin. Sie tut sich schwer damit, ihrem Idol zu folgen und einen Kandidaten zu unterstützen, der zeitlebens moderate bis konservative Positionen vertreten hat. «Biden muss sich steigern», forderte die Kongressabgeordnete Pramila Jayapal aus dem Staat Washington, die zum linken Flügel gehört, in der «New York Times».
Auch ihre New Yorker Kollegin Alexandria Ocasio-Cortez, der neue Liebling der amerikanischen Linken, äusserte Vorbehalte. Biden fehle die Unterstützung der jungen Wählerschaft, und ohne diese werde es für ihn im November schwer werden, sagte sie der «New York Times». Der Kandidat kennt das Problem. Er hat sich zuletzt verstärkt um die Stimmen der Jungen bemüht.
So unterstützt Biden einen kostenlosen Zugang zu öffentlichen Hochschulen und einen teilweisen Erlass der Schulden, die viele während des Studiums angehäuft haben. Auch bei Themen wie Klimawandel und Krankenversicherung – in der Coronakrise ein wichtiger Faktor – hat er sich auf die Linke zubewegt. Doch noch fehlt bei dieser die Überzeugung, dass Biden es ernst meint.
Zum Problem könnte auch eine Anzeige wegen sexueller Nötigung werden, die eine einstige Mitarbeiterin gegen ihn eingereicht hat. Die heute 56-jährige Tara Reade behauptet, der damalige US-Senator habe sie 1993 im Intimbereich begrapscht. Biden dementierte vehement, doch letztes Jahr hatte er eingeräumt, dass er einen sehr körperbetonten Umgang mit Menschen pflegt, auch mit Frauen.
In Zeiten von MeToo kann dies als übergriffig empfunden werden. Die Anzeige wirkt dennoch dubios, denn Tara Reade hatte sich im Internet als Sanders-Anhängerin und Putin-Verehrerin zu erkennen gegeben. Donald Trumps Wahlkampfteam nahm den Steilpass jedenfalls gerne auf, obwohl der Präsident in Sachen sexuelle Belästigung alles andere als ein Chorknabe ist.
Trump zeigt sich überzeugt, dass er Biden «vernichten» werde. Danach sieht es bislang nicht aus. Sein Popularitätsschub nach Ausbruch der Coronakrise ist bereits Geschichte. Umfragen zeigen, dass Joe Biden ihn in wichtigen Bundesstaaten besiegen würde. Die umstrittene Wahl von letzter Woche in Wisconsin ist ein Warnsignal. Die Republikaner hatten sie durchgedrückt, um einen konservativen Richter zu bestätigen. Er verlor klar gegen seine demokratische Rivalin.
Mit seinem erratischen, mit Unflätigkeiten und Lügen gespickten Krisenmanagement und seiner Suche nach einem Sündenbock – die Weltgesundheitsorganisation WHO muss dafür herhalten – überzeugt Trump die Amerikaner bislang nicht. Zum Knackpunkt für seine Wiederwahl aber wird die Wirtschaft. Sein vermeintlich grösster Trumpf verwandelt sich angesichts rasant steigender Arbeitslosenzahlen in ein Desaster.
Der Wahlkampf aber dürfte erst im Spätsommer wieder in Fahrt kommen. Eine Verschiebung der Präsidentschaftswahl am 3. November ist so gut wie unmöglich, denn der Wahltermin ist in der US-Verfassung festgeschrieben. Bereits stellt man sich deshalb auf einen rein virtuellen Wahlkampf ein, inklusive der grossen Nominationsparteitage im August.
Bis dann muss sich Joe Biden bemühen, weiter im Gespräch zu bleiben. Zum Beispiel mit der Ernennung seiner Mitstreiterin. Biden will eine Frau für das Vizepräsidium, mit Fokus auf die Minderheiten. Also eine Schwarze oder Latina. Die besten Karten scheint derzeit Senatorin Kamala Harris aus Kalifornien zu haben, die selber für die Präsidentschaft kandidiert hatte.