Jim Lo Scalzo hatte mit einem ruhigen Arbeitstag gerechnet. Er machte sich am Morgen des Dreikönigstags auf zum Kapitol in der amerikanischen Hauptstadt, um Fotos von anzugtragenden Parlamentariern zu machen, die Wahlzettel beglaubigen.
Doch dann fand sich Lo Scalzo plötzlich inmitten einer Horde wilder Kerle wieder, die durch die heiligen Hallen der US-Demokratie stürmten, Trump-Fahnen schwenkten und Rednerpulte niederrissen. Lo Scalzo, der für die European Pressphoto Agency (EPA) das politische Geschehen in Washington festhält, hat in seiner Karriere als Profifotograf viel gesehen: Krieg und Horror und viel Leid. Die Szenen an diesem kalten Wintertag, die waren selbst für ihn völlig neu.
«Die Protestierenden waren aggressiv, ich wurde rumgeschubst und gestossen und machte mir Sorgen um meine Ausrüstung», erzählt uns Lo Scalzo. «Eine massige Frau versuchte, mir meinen Presseausweis wegzureissen. Meiner Kollegin von der ‹New York Times› haben sie die Kamera gestohlen und sind davongerannt.»
Lo Scalzo wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Washington. Viel Historisches ist in der Hauptstadt passiert. Einiges davon – etwa die Amtseinsetzung von Donald Trump – hat er live miterlebt. Als die Meute plötzlich an den Toren des Kapitols rüttelte, hat Lo Scalzo rasch gemerkt, dass er erneut Zeuge eines Weltereignisses wird.
«Alles ging ganz schnell. Menschen zerschmetterten Fensterscheiben und tobten durch die Gänge. Ich dachte mir nur: Mein Gott, passiert das wirklich?» Auch die Protestler seien offenkundig erstaunt darüber gewesen, dass sie tatsächlich ins Kapitol eindringen konnten. «Der Mob wirkte wie im Rausch, wie Figuren aus einem dieser ‹Mad Max›-Actionfilme.»
Lo Scalzo knipste drauf los. Einen Blitz hatte er in seiner Karriere noch nie, dafür immer einen Schreibblock und einen Stift im Sack. Doch für Notizen blieb ihm jetzt keine Zeit. «Ich habe mir gesagt: Du musst einfach in Bewegung bleiben, dann passiert dir nichts.»
Fahnenschwingende Wikinger in den Parlamentshallen, schreiende Maskierte in den Vorzimmern der Macht, Männer mit rechtsextremen Fahnen: Lo Scalzo zoomte rein und hielt die Szenen fest, die dem jungen Jahr die Unschuld raubten. Er bannte die Flüchtigkeit dieser wahnsinnigen Augenblicke für immer auf die Speicherkarten seiner Kamera.
Nur Stunden später staunte die ganze Welt über die Fotos, die Lo Scalzo im Kapitol geschossen hatte. Amerikas Kritikern dienen sie als weiterer Beweis für die Fragilität der Demokratie. Die Russen lachen über das «archaische» System. Die Chinesen vergleichen die Protestler mit den Demokratie-Aktivisten in Hongkong. Und die kenianische Zeitung «Daily Nation» titelt in ihrer Freitagsausgabe unter einem der Fotos: «Wer ist jetzt die Bananenrepublik?»
Eine gute Stunde dauerte das Chaos. Dann schafften es die Ordnungshüter, die Kontrolle zurückzugewinnen. Eine Demonstrantin war in den Gängen des Gebäudes erschossen worden. Und Lo Scalzo versuchte, einen sicheren Weg nach draussen zu finden. «Alle Wege waren blockiert. Und plötzlich stand ich einer Spezialeinheit gegenüber. Die Polizisten richteten ihre Waffen auf mich und schrien: Auf den Boden!» Die Sorge um seine Kamera war jetzt einer ganz anderen Angst gewichen: «Ich dachte, die erschiessen mich.»
Als die Beamten der Spezialeinheiten realisierten, dass Lo Scalzo kein brandschatzender Eindringling ist, halfen sie ihm auf die Beine und sagten: «Versteck dich in einem Büro!» Lo Scalzo fand einen Raum und verschanzte sich darin. «Plötzlich hämmerte jemand an die Tür. Zum Glück waren es Polizisten und nicht die Verrückten.»
Lo Scalzo kam glimpflich davon. Doch das Drama dieses Morgens lässt ihn nicht mehr los. «Wenn ich mir die Bilder heute anschaue, dann spüre ich Wut. Diese Verrückten, die jede von Trumps Unwahrheiten aufsaugten, haben Amerikas Glaubwürdigkeit kaputt gemacht», sagt er. Was ihn wütend macht, das sind aber nicht nur die Szenen aus dem Kapitol, sondern auch die Reaktion vieler Beobachter, die sich in den Stunden nach den Ausschreitungen hinstellten und verkündeten: Das hier, das habe nichts mit Amerika zu tun.
«Und ob es das hat!», sagt der Fotograf. «Das Chaos im Kapitol, das war Amerika. Wir sind eben auch ein Land von unzufriedenen Verschwörungstheoretikern. Wir sind ein Land der Massentäuschung. Nichts kann die Millionen, die ein allzu lockeres Verhältnis zur Realität entwickelt haben, noch zur Vernunft bringen.»
Jim Lo Scalzo hat als Fotoreporter mehr als 60 Länder besucht. Er glaubt an vieles, aber nicht an eine rosige Zukunft seiner Heimat. Auch jetzt nicht, wo die «Trump-Show» endlich endet. «Die vergangenen vier Jahre sind wir Fotografen hier in Washington von einer wahnsinnigen Veranstaltung zur nächsten gerannt.» Viel wichtigere Themen seien auf der Strecke geblieben. Das sei jammerschade.
Und wenn man Lo Scalzo zum Abschluss fragt, welches denn sein wichtigstes Foto dieses Tages war, dann übt er sich in nobler Zurückhaltung. Der schreiende schwarze Block in der Rotunde? Das Foto des Rüpels, der seine Stiefel auf Nancy Pelosis Pult legte? Nein, sagt Lo Scalzo. Die wichtigsten Bilder hätten seine Kollegen im Saal des Repräsentantenhauses gemacht, wo Polizisten die Türen verbarrikadiert und die Irren am Eindringen in den Parlamentssaal gehindert hätten. Dieses Bild dürfe Amerika nicht vergessen, sagt er. «Nie.» (aargauerzeitung.ch)
😂
Genau so sehe ich das auch. Neben all dem Hass und Zwiespalt der gesät wurde, blieben so dringende Themen wie Digitalisierung, Green New Deal und Steuergerechtigkeit 4 ganze Jahre lang einfach liegen.
Unglaublich schade um die vertane Zeit.
China sagt Danke.