Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny kämpft um sein Leben: Der 44-jährige Kreml-Kritiker liegt im Koma und wird beatmet. Er war während eines Flugs in Ohnmacht gefallen, nachdem er eine Tasse Tee getrunken hatte. Der Anwalt von Nawalnys Fonds zur Bekämpfung von Korruption, Wjatscheslaw Gimadi, sagte: «Es besteht kein Zweifel, dass Nawalny wegen seiner politischen Position und seiner Tätigkeit vergiftet wurde.»
Es wäre nicht das erste Mal, dass eine dem russischen Machtzirkel um Präsident Putin nicht genehme Person nach dem Genuss einer Tasse Tee das Bewusstsein verliert: Im September 2004 erging es der bekannten Journalistin Anna Politkowskaja so, als sie auf dem Weg nach Beslan war, wo nach einer Geiselbefreiung an einer Schule hunderte von Menschen umgekommen waren. Politkowskaja wurde ohnmächtig und erreichte ihr Ziel nicht. Sie überlebte, fiel aber später einem Mordanschlag zum Opfer (siehe unten).
Die folgende Liste der ermordeten Journalisten, Politiker und Wirtschaftsleute, die Putin in die Quere kamen oder ihn und seine Politik scharf kritisierten, ist lang – und dennoch unvollständig. In den meisten Fällen wurden die Mörder nicht gefunden. Und die Drahtzieher schon gar nicht.
Hier nicht berücksichtigt sind Fälle wie der sogenannte Tiergarten-Mord in Berlin, bei dem ein ehemaliger Kommandant tschetschenischer Milizen vermutlich vom russischen Geheimdienst ermordet wurde. Und auch die spektakulären Giftanschläge auf Wladimir Kara-Mursa oder Sergei Skripal kommen hier nicht in Betracht, da beide das Attentat – zumindest bis jetzt – überlebt haben. Besonders der Anschlag auf Skripal und dessen Tochter machte international Schlagzeilen, weil er in England stattfand und dabei ein geächteter Nervenkampfstoff verwendet worden war.
Der Journalist, der seit Oktober 1998 für die regierungskritische Zeitung «Nowaja Gaseta» schrieb, wird am 12. Mai 2000 im Treppenhaus seiner Moskauer Wohnung mit einem Hammer niedergeschlagen und in einer Blutlache liegengelassen. Ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben, stirbt Domnikow zwei Monate später im Krankenhaus. Sein Mörder wird 2003 verhaftet und 2007 verurteilt. Die Auftraggeber des Verbrechens werden in der «Nowaja Gaseta» genannt, kommen aber nie vor Gericht. Domnikow ist der erste Journalist der «Nowaja Gaseta», der seine Arbeit mit dem Leben bezahlt.
Der Journalist beim tadschikischen Kanal von Radio Free Europe / Radio Liberty wird in seiner Wohnung in Moskau mit einer Axt getötet. Der 46-jährige Chatloni hatte zu Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien recherchiert. Die Ermittlungen in seinem Fall werden ergebnislos eingestellt.
Der vormalige russische Informationsminister und liberale Duma-Abgeordnete Sergej Juschenkow wird im Moskauer Stadtteil Tuschino erschossen, als er aus seinem Dienstwagen steigt. Kurz zuvor hat er seine neue Liberale Partei für die Wahlen im Dezember registrieren lassen. Juschenkow war Mitglied im Geheimdienstausschuss der Staatsduma und Vize-Chef einer Kommission, die eine Serie von angeblich tschetschenischen Bombenanschlägen in Moskau untersuchte. 2002 veröffentlichte er einen Film, in dem er dem Geheimdienst FSB eine Verwicklung in die Anschläge vorwarf. Vier Täter, bei denen zum Teil erhebliche Zweifel an ihrer Schuld bestehen, wurden verurteilt.
Der «Nowaja Gaseta»-Journalist und Duma-Abgeordnete Jurij Schtschechotschichin fällt nach mehreren Tagen Unwohlseins einer mysteriösen Vergiftung zum Opfer. Die Diagnose lautet offiziell auf eine heftige allergische Reaktion, das sogenannte Lyell-Syndrom. Die russischen Behörden lehnen die Autopsie seiner Leiche ab, seine Krankenakte wird eingezogen und als geheim eingestuft. Angehörige Schtschechotschichins können aber eine Hautprobe in London untersuchen lassen. Diagnose: Thallium. Es handelt sich um ein hochgiftiges Metall, das schon der sowjetische Geheimdienst KGB einsetzte. Schtschechotschichin ist der zweite Journalist der «Nowaja Gaseta», der ermordet wird. Er war Mitglied in einem Duma-Ausschuss zur Überprüfung von Korruption der Ämter und Amtspersonen Russlands und galt als Experte für Korruption und organisiertes Verbrechen.
Mehrere Kugeln, die aus einem fahrenden Auto heraus abgefeuert werden, töten den in den USA geborenen und aufgewachsenen Chefredaktor des russischen «Forbes»-Magazins vor dem Redaktionsgebäude in Moskau. Paul Klebnikow hat seine Stelle erst wenige Monate zuvor angetreten. Der 41-Jährige erregte Aufsehen, als er erstmals eine Liste der reichsten Russen veröffentlichte. In seinem Buch «Godfather of the Kremlin: The Decline of Russia in the Age of Gangster Capitalism» («Der Pate des Kreml – Boris Beresowski und die Macht der Oligarchen)» informierte Klebnikow über Aufstieg und Aktivitäten verschiedener russischer Oligarchen, darunter besonders Boris Beresowski. Wegen des Mordes wurden drei tschetschenische Verdächtige angeklagt, aber zunächst freigesprochen.
Als wäre es ein Geburtstagsgeschenk: Am 7. Oktober 2006, Putins Geburtstag, treffen fünf Kugeln die Journalistin und Menschenrechts-Aktivistin Anna Politkowskaja im Aufzug ihres Wohnhauses in Moskau. Die 48-Jährige gilt als Putin-Gegnerin und wird wegen ihrer kritischen Berichterstattung in der Zeitung «Nowaja Gaseta» über den Krieg in Tschetschenien in nationalistischen russischen Kreisen gehasst; ihre Ermordung macht international Schlagzeilen. Fünf aus Tschetschenien stammende Männer werden 2014 zu langjährigen Strafen verurteilt. Die Auftraggeber des Verbrechens sind jedoch bis heute im Dunkeln geblieben. Manche Beobachter vermuten, dass der Premierminister der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, im Hintergrund die Strippen gezogen hat.
Im November 2006 wird der ehemalige KGB-Mann und Putin-Kritiker Alexander Litwinenko in einem Londoner Hotel mit dem radioaktiven Metall Polonium vergiftet. Seine Agonie vollzieht sich vor den Kameras der Weltpresse; der sterbende Litwinenko, der durch die Strahlenkrankheit alle Haare verloren hat, macht Putin für seinen Tod verantwortlich. Der 44-jährige Geheimdienstmann, der 2003 zum britischen Auslandsgeheimdienst MI6 überlief und seit 2006 auch die britische Staatsbürgerschaft besass, soll vor seinem Tod im Fall der ermordeten Anna Politkowskaja ermittelt haben. 1998 hatte er vor den Medien über Korruption und Inkompetenz der Armee in Tschetschenien berichtet. Die britische Staatsanwaltschaft erliess Haftbefehle gegen zwei russische Geheimdienstmitarbeiter, die aber von Russland nicht ausgeliefert werden.
Der Anwalt und Bürgerrechtler Stanislaw Markelow stirbt, zusammen mit der jungen «Nowaja Gaseta»-Reporterin Anastasia Baburowa im Zentrum Moskaus – niedergeschossen auf offener Strasse. Der 34-jährige Markelow hat sich Feinde im russischen Militär gemacht, seit er die Familie einer ermordeten Tschetschenin vertritt. Als deren Mörder, der russische Offizier Jurij Budanow, frühzeitig aus der Haft entlassen werden soll, hält Markelow eine Pressekonferenz mit Baburowa ab, in der er ankündigt, dass er gegen Budanows Entlassung klagen werde. Kurz danach fallen die tödlichen Schüsse. Die Mörder können diesmal überführt werden, sie sind Mitglieder einer rechtsradikalen Organisation.
Ihre Leiche wird am Nachmittag des 15. Juli 2009 in einem Waldstück in der russischen Teilrepublik Inguschetien gefunden: Die Geschichtslehrerin, Menschenrechtlerin und Journalistin Natalia Estemirowa, die am Vormittag vor ihrem Wohnhaus in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny entführt worden war, ist mit mehreren Schüssen getötet worden. Die 51-Jährige, Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial, hat mit Berichten über verschwundene Zivilisten in Tschetschenien den Zorn der Machthaber auf sich gezogen. Sie hinterlässt eine 15-jährige Tochter. Die Ermittlungen haben auch zehn Jahre nach der Bluttat kaum greifbare Ergebnisse gebracht. Mit ihrer Ermordung soll Ramsan Kadyrow zu tun haben, der ihr öffentlich mit dem Tod drohte. Estemirowa hatte wiederholt die Todeskommandos des kremltreuen Präsidenten Tschetscheniens für Entführungen verantwortlich gemacht.
480 Beschwerdebriefe schreibt Sergej Magnizki während seiner fast einjährigen Untersuchungshaft – keiner wird beantwortet. Der 37-jährige Anwalt und Wirtschaftsprüfer, bei seiner Verhaftung noch völlig gesund, stirbt schwer krank am 16. November 2009 in seiner Zelle. Jede ärztliche Hilfe wird ihm verweigert. Man nimmt an, dass Wärter ihn zu Tode geprügelt haben. Niemand wird für seinen Tod zur Verantwortung gezogen – als offizielle Todesursache geben die Behörden zuerst Pankreatitis an, später Herzinfarkt. Eine Obduktion wird nicht erlaubt. Magnizki war im Rahmen seiner Tätigkeit für das Unternehmen Hermitage Capital Management illegalen Steuerrückerstattungen auf die Spur gekommen, mit denen sich korrupte Beamte im russischen Innenministerium bereicherten. Er wurde darauf selbst wegen Mittäterschaft zur Steuerhinterziehung verhaftet. 2013 spricht ihn ein Gericht postum des Steuerbetrugs schuldig. Der Fall Magnizki belastet die Beziehungen zwischen den USA und Russland erheblich, da die USA mit dem Magnitsky Act russischen Beamten, die für Magnizkis Tod verantwortlich sind, die Einreise in die USA verweigern und ihre Vermögen eingefroren haben.
Der Oligarch lebt seit 2000 im Exil. Sein Haus in England ist mit schusssicherem Glas ausgestattet, weil er sich vor dem langen Arm Putins fürchtet, seines ehemaligen Protegés und späteren Intimfeinds. Doch am 23. März 2013 wird Boris Beresowski, einst einer der reichsten Männer Russlands, tot aufgefunden. Todesursache ist Strangulation – aber hat sich Beresowski selbst das Leben genommen oder ist er umgebracht worden? Die offizielle Untersuchung der britischen Behörden kommt zum Schluss, dies sei nicht zweifelsfrei festzustellen. Der einstige Multimillionär hat die russische Opposition gegen Putin finanziell unterstützt. Er ist aber auch mehrfach verdächtigt worden, in den Tod von Putin-Gegnern wie Alexander Litwinenko oder Anna Politkowskaja verwickelt zu sein. Auch mit dem Tod von Paul Klebnikow ist Beresowski in Verbindung gebracht worden.
Am späten Abend des 27. Februars 2015 ist der bekannteste Regierungsgegner Russlands mit seiner Freundin im Zentrum Moskaus unterwegs, als ihm ein Attentäter viermal in Rücken und Hinterkopf schiesst. Boris Nemzow stirbt in Sichtweite des Kremls, seine Freundin Anna Durizkaja bleibt unverletzt. Der 55-jährige Nemzow, einst Vize-Ministerpräsident unter Boris Jelzin und kurzzeitig Putins aussichtsreichster Rivale, ist einer der Führer der Solidarnost-Bewegung, eines Bündnisses der russischen Opposition. 2014 bezeichnete er Russland gegenüber der ARD als Mafiastaat mit Putin an der Spitze. Am Tag vor seiner Ermordung kündigte er neue Enthüllungen über den Krieg in der Ost-Ukraine an. Als Tatverdächtige werden schon am 5. März fünf Tschetschenen verhaftet und später verurteilt. Die Annahme, die Mörder hätten aus islamistischen Motiven gehandelt, bezeichnen Regierungskritiker allerdings als unsinnig; sie diene der Ablenkung.
Erinnerung ist so wichtig.
Jeder einzelne Fall dokumentiert die wahre tödliche "cancel culture" dieser Zeit.
Wer stört, wird zu Tode geprügelt, erschossen, vergiftet, erschlagen, erhängt.
Nicht zu vergessen die jetzt gerade Weggesperrten, Gefolterten, ins Schweigen Verbannte.