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Corona: Warum es jetzt umso wichtiger ist, mit den Liebsten zu kuscheln

Kinder sollen trotz Corona genug körperliche Nähe erfahren.
Kinder sollen trotz Corona genug körperliche Nähe erfahren.bild: shutterstock

Warum es jetzt umso wichtiger ist, mit den Liebsten zu kuscheln

Obwohl wir in der Isolation mit den Liebsten sprechen und sie per Video sehen können, fehlt etwas. Die körperliche Nähe. Damit es uns gut geht, brauchen wir Berührungen.
19.04.2020, 06:3119.04.2020, 11:46
Annika Bangerter / CH Media
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Die ältere Nachbarin erzählt, wie sehr es ihr fehlt, ihre Enkelkinder in den Arm zu nehmen. Der Kollege berichtet, wie verstörend es gewesen war, an einer Beerdigung die Anteilnahme ohne Händedruck auszusprechen. Und selber stellt man bereits nach einigen Tagen und zig Videoanrufen fest: Das Zusammensein ersetzen sie nicht. Selbst bei den besten Gesprächen stellt sich nicht dieselbe Nähe und Vertrautheit ein, wie wenn man einander bei einer Tasse Kaffee gegenübersitzt. Die körperliche Anwesenheit des Gegenübers fehlt.

Am deutlichsten zeigt sich dies bei grossen Emotionen: bei Trauer und Verzweiflung, bei grosser Freude und Euphorie. Dann sitzt man vor dem Bildschirm, kramt nach passenden Worten und bringt etwas über die Lippen wie: «Fühl dich umarmt; ich wäre jetzt gern bei dir.» Hilflosigkeit macht sich breit, wenn man nicht einmal ein Taschentuch reichen kann.

«Wir brauchen fürs Kommunizieren auch den Körper», sagt Martin Grunwald, Gründer und Leiter des Haptik-Labors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig. Die emotionale Nähe sei gekoppelt an die körperliche Nähe – und somit an die analoge Welt. Ohne die physische Anwesenheit fehlt das gemeinsame Erleben, die verstohlenen Blicke oder das gemeinsame Schweigen. Etwas, das bei Anrufen rasch unangenehm wird. «Mit den digitalen Strukturen versuchen wir momentan, das Beste herauszuholen, aber eine Umarmung oder ein Händedruck lässt sich dadurch nicht ersetzen», sagt der Haptikforscher.

Umarmung senkt den Blutdruck

Was also macht das mit uns Isolierten und Abstand Haltenden? Kurzfristig könne sich der Mensch mit einer solchen Ausnahmesituation arrangieren, aber auf längere Sicht würden die Einschränkungen Konsequenzen haben: «Aus der Raumfahrt ist bekannt, dass selbst Personen mit einer engen Beziehung nicht länger als sechs Monate räumlich voneinander getrennt sein sollten. Sonst droht das innere Band abzureissen.» Deshalb sollte ein Lockdown wie der aktuelle aus psychologischer Sicht sicher nicht länger als ein halbes Jahr dauern, sagt Grunwald.

Mit seinem Team erforscht Martin Grunwald die Wirkungsweise des menschlichen Tastsinns. Dabei ist er zum Schluss gekommen: Als Blinder, Gehörloser oder als Mensch ohne Geruch- oder Geschmackssinn lässt sich mit den Einschränkungen leben. Ohne Berührungen und folglich dem Tastsinn wird der Mensch jedoch krank oder entwickelt Defizite. «Wie alle Säugetiere brauchen wir Menschen den Körper von anderen, damit es uns gut geht. Deren Berührungsreize sind elementar für unser Wachstum und Wohlbefinden. Wer sich selber umarmt oder massiert, kann nicht dieselben biochemischen Effekte auslösen wie ein Gegenüber», sagt Grunwald. Wie schnell die neurophysiologische Wirkung sich entfaltet, hängt von der Beziehung ab: Bei einer Massage stellt sie sich am schnellsten ein, wenn es die Partnerin oder der Partner macht. Bei einem Profi, wie einem Physiotherapeuten, dauert es etwas länger.

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In seinem Buch «Homo Hapticus» beschreibt Martin Grunwald solche physiologischen Abläufe. So konnte die Forschung unter anderem nachweisen, dass eine Umarmung des Partners oder der Partnerin den Blutdruck deutlich senkt – auch wenn sie lediglich 20 Sekunden dauert. Andere Studien zeigten, dass Berührungsreize das Immunsystem stabilisieren und entzündungshemmend wirken. Sie reduzieren Stresshormone und entspannen. Grunwald drückt es so aus: «Umarmungen stimulieren die körpereigene Apotheke des Menschen.» Alles Effekte also, die in Zeiten von Corona hilfreich sind. Wer kann, sollte sich regelmässig in die Arme seiner Partnerin oder seines Partners kuscheln.

Mensch und Hund – beide profitieren

Guy Bodenmann forscht als Psychologe an der Universität Zürich zu Paarbeziehungen. Er sagt: «Studien zeigen, dass körperliche Nähe bis ins hohe Alter hinein gesucht und geschätzt wird.» Daran habe die digitalisierte Gesellschaft nichts geändert.

In der Schweiz haben gemäss einer Erhebung des Bundesamts für Statistik 24,4 Prozent der 18- bis 80-Jährigen keine Partnerin, keinen Partner. Was hilft also den Singles in der Isolation? Haptik-Forscher Grunwald überlegt kurz und sagt dann: «Haustiere – wenn man nach der Coronakrise noch genügend Zeit für sie aufbringen kann.» In Deutschland lebe in jedem zweiten Haushalt ein Tier, sagt Grunwald. «Wenn der Mensch einen lebendigen Säugetierorganismus streicheln kann, profitieren beide.»

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Auch ein Hund oder eine Katze brauche körperliche Interaktion und suche die Nähe. «Deshalb funktioniert die Symbiose zwischen ihnen und den Menschen so gut.»

Bedürfnis nach Nähe ist angeboren

Eine langfristige Absenz von Körperkontakt kann für Kleinkinder bedrohlich werden. Im Kern beschreibt dies die Bindungstheorie, die Psychologen Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt haben und bis heute Gültigkeit besitzt. Sie zeigt auf, wie Säuglinge das angeborene Bedürfnis haben, Nähe zu einer vertrauten Person herzustellen. Durch Zuwendung und Schutz vermittelt die erwachsene Bezugsperson dem Kind in seinen ersten Lebensjahren emotionale und reale Sicherheit.

Zentral für den Beziehungsaufbau sind Berührungen, sagt Moritz Daum, Entwicklungspsychologe an der Universität Zürich. «Kinder bauen die sicherste Bindung unter anderem dadurch auf, dass sie in den Arm genommen werden.» Ihr Tastsinn ist der Schlüssel dazu. Er ist das erste Sinnessystem, das sich beim ungeborenen Kind entwickelt: Bereits in der siebten Schwangerschaftswoche reagieren Embryos auf Berührungsreize im Bereich der Lippen. In den weiteren sieben Schwangerschaftswochen dehnt sich das taktile Fühlen auf alle Körperregionen aus. Die Haut ist nicht nur das grösste Sinnesorgan des Menschen, sondern auch das erste, das sich entfaltet.

«Kommt das Kind auf die Welt, ist das Tasten im Vergleich zum Sehen und Hören schon sehr weit entwickelt», sagt Daum. Das prägt das Verhalten in den ersten Lebensmonaten.

Eltern sollten ihre Kinder in der Coronakrise häufiger umarmen

Moritz Daum verweist auf die Experimente des Verhaltensforschers Harry Harlow, der in den 1950er-Jahren Experimente mit Rhesusaffen-Babys durchführte. Um die Mutter-Kind-Beziehung zu ergründen, führte Harlow zum Teil grausame Versuche durch. So trennte er die Affenbabys etwa von ihrer Mutter und sperrte sie in einen Käfig. Darin trafen die Kleinen auf zwei Mütter-Attrappen aus Draht. Die eine Attrappe war mit einer Milchflasche ausgestattet, die andere mit Fell überzogen. «Harlow wollte dadurch herausfinden, was wichtiger für die kleinen Äffchen war, das Füttern oder die körperliche Nähe», sagt Daum.

Das Resultat: Die Affenbabys klammerten sich an das Fell. Einige liessen selbst bei Hunger nicht davon ab, andere versuchten, sich weiterhin an das Fell klammernd, die Milchflasche zu erreichen. «Diese Ergebnisse waren damals für viele Forscher eine Überraschung. Lange ging man davon aus, dass Kinder lediglich Nahrung brauchen, damit sie sich gut entwickeln. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg stellte man fest, dass sie trotz genügend Essen Defizite entwickeln können – weil es ihnen an sozialen Beziehungen und körperlicher Nähe fehlt», sagt Daum. Unter anderem ihre kognitiven oder sprachlichen Fähigkeiten können beeinträchtigt sein, was Folgen bis ins hohe Erwachsenenalter haben kann.

Das sind extreme Fälle von Vernachlässigung und Liebesentzug. Mit der Corona-bedingten Isolation haben sie nichts zu tun. Wirken sich der Lockdown und insbesondere die Absenz der grosselterlichen Umarmungen dennoch auf das Befinden der Kinder aus?

«Je nach Alter ist es für ein Kind schwierig zu verstehen, dass es die Grosseltern nicht sehen darf», sagt Daum und fügt an: «Die Eltern können dies aber auffangen. Wenn sie die Kinder etwas mehr in die Arme nehmen als sonst und auf ihre Sorgen eingehen, bin ich optimistisch, dass die Coronakrise keine langfristigen Auswirkungen haben wird.»

Auch Haptikforscher Grunwald betont: «Es darf auf keinen Fall wegen Corona auf die Körperkommunikation mit den Kindern verzichtet werden. Selbst die vorsichtigsten Familien müssen darauf achten, dass die Kinder genügend Interaktionen und körperliche Nähe erhalten – im Notfall mit Mundschutz oder Gummihandschuhen.»

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18 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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mille_plateaux
19.04.2020 09:25registriert Juni 2017
Datum meiner Trennung: 26.03.
Genau was ich jetzt lesen will. Merci Watson 😂
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Benjamin Gmür
19.04.2020 12:28registriert November 2018
Das trifft leider voll und ganz zu 😣
Single, Risikopatient seit 5 Wochen in Karäne, keine Haustiere.
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Munchkin
19.04.2020 11:15registriert Januar 2019
Zuerst wurde ich krank dann kam der lockdown. Nun schon seit 2 Monaten getrennt von meinem Freund aus Deutschland. Wann sind die Grenzen wieder offen🥺?
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