«Fast mein ganzes Leben lang wollte ich weniger sein, zarter, leichter, weil ich glaubte, dann mehr wert zu sein», sagt Melodie Michelberger und bläst sich den akkurat geschnittenen Pony aus dem Gesicht. Heute, mit 44 Jahren, nach Sport-, Diät-, Magersucht und einem Zusammenbruch, ist ihr Körper grösser, runder, weicher als jemals zuvor.
Das ganz selbstverständlich zu sagen, sei radikal, dann auch noch darauf zu bestehen, so dick bleiben zu wollen, «das ist geradezu skandalös», sagt die Hamburgerin und schaut gut gelaunt in einen leeren Zuschauerraum und in eine Kamera; Buchpräsentation in Corona-Zeiten via Livestream. «Body Politics» hat sie ihr gerade erschienenes biografisches Sachbuch betitelt, weil es nicht um ein bisschen Selbstliebe vor dem Spiegel gehe, sondern um ein gesellschaftlich tief verankertes Problem; die Diskriminierung von dicken Menschen, kurz Fettfeindlichkeit.
Melodie Michelberger ist zurzeit eine der bekanntesten Fettaktivistinnen im deutschsprachigen Raum. Stolz posiert sie in Unterwäsche für Magazine, diskutiert in Talkshows, auf Instagram folgen ihr 48'000 Personen. Stets strahlt und lacht sie, trägt tolle Kleider. Das war nicht immer so: Sie habe lernen müssen, das es okay sei, als dicke Person enge Kleidung zu tragen.
«Natürlich sieht man da Speck am Rücken, Speck an den Beinen, Speck am Bauch. Mich trotzdem schön zu finden, fiel mir lange schwer», erzählt sie. Vor allem weil die Gesellschaft ihr jeden Tag das Gegenteil sagt. Dass sie ihren Körper verstecken soll, dass ihr Fett eine Zumutung sei und ungesund sowieso.
schreibt die ehemalige Moderedaktorin. Jahrelang hat sie genau in jener Branche gearbeitet, die bestimmt, welche Körperformen als schön und akzeptiert gelten und welche unpassenden, masslosen Körper mit der richtigen Diät heruntergehungert werden müssen. «Ich war selbst extrem fettfeindlich, wie übrigens viele dicke Menschen.» Ihr sei früh beigebracht worden, ihren Körper als mangelhaft und unpassend wahrzunehmen. Als ob eine bessere, dünnere Version in ihr schlummern würde. «Wie dumm von mir.»
Auch Melanie Dellenbach hat aufgehört, auf die dünnere, angeblich bessere Version ihrer selbst zu warten und darauf hin zu hungern. Im Sommer überlegt sie sich trotzdem zweimal, ob sie an einem Glacestand anstehen soll. Nicht wegen der Kalorien, sondern wegen der bösen Blicke, die sagen: Schau, jetzt isst sie wieder, die Dicke.
Ja, Melanie Dellenbach ist dick, Kleidergrösse irgendwo zwischen 50 und 54. Mit den Begriffen dick und fett hat sie kein Problem. Ein Problem hat sie damit, dass ihre Körperform ihr als Charakterschwäche ausgelegt wird. «Mein grosser Körper ist für viele Menschen eine Zumutung, ein Fett gewordenes Problem. Ein Zeichen dafür, dass ich nicht genug Willenskraft habe», sagt die 37-Jährige aus Ostermundigen.
Als ob sie nicht zig Diäten hinter sich hätte, als ob sie nicht jahrzehntelang gegen ihren eigenen Körper angekämpft hätte und dafür nur Enttäuschungen, Scham und noch ein paar Jo-Jo-Kilos mehr obendrauf kassiert hätte. Nicht ihr Gewicht habe sie krank gemacht, sondern der jahrelange Versuch, Gewicht zu verlieren, sagt die 37-jährige Mutter einer kleinen Tochter heute.
Längst hätten Studien bewiesen, dass gut 95 Prozent der Menschen nicht längerfristig massiv an Gewicht verlieren können. «Es gibt und gab schon immer dünne, dicke, sehr dicke und sehr dünne Menschen, das ist Teil unserer Diversität und nicht ein Problem», sagt sie am Telefon, und man hört der gelernten Pflegefachfrau die Frustration an. Trotzdem würde Übergewicht, oder Mehrgewicht, wie Betroffene es lieber nennen, als gesundheitlich gefährlicher eingestuft als jahrelange Essstörungen. «Das ist doch kompletter Unsinn.»
Seit Melanie Dellenbach 2011 mit einem Modeblog für grosse Grössen angefangen hat, beschäftigt sie sich mit Gewichtsdiskriminierung. In den USA, wo sie ein Jahr gelebt hat, seien Fettaktivistinnen schon seit Jahrzehnten sehr präsent. In der Schweiz passiere praktisch nichts. «Hier gelten dicke Menschen als krank, Fettsein als etwas, wogegen man präventiv vorgehen muss, schon bei kleinen Kindern.»
Natürlich habe sie nichts gegen Gesundheitsförderung, Bewegungsangebote, gesunde Lebensmittel, aber gegen die Definition, dass ein gesunder Mensch nur ein sehr schlanker Mensch sein könne. «Das ist nicht nur anmassend, sondern einfach auch falsch», stellt die gelernte Pflegefachfrau klar» Gesundheit sei mehr als Blut- und Fettwerte. «Ob ich mich bewege, soziale Kontakte habe, Freude am Essen und am Leben habe, ist für meine Wohlbefinden wichtiger als mein Bodymassindex.»
2018 hatte Melanie Dellenbach genug davon, dass die Gewichtsstigmatisierung in Gesellschaft und Politik in der Schweiz zu- statt abnahm. Sie begann sich als Körperrespektsaktivistin zu engagieren und gründete die Plattform Yes2Bodies. Organisiert Workshops zum Thema, hält Vorträge, sensibilisiert Lehrpersonen. Um die Basis zu vergrössern, gründete sie kürzlich mit anderen den Verein Body Respect Schweiz. Selbstliebe sei wichtig, sagt sie. «Aber wie kann ich meinen Körper respektieren, wenn es schon draussen vor meiner Tür niemand mehr tut?»
Mit ihren Mitstreiterinnen organisiert sie darum auch lauten Widerstand, wenn zum Beispiel eine Fitnesskette mit einem dicken, kopflosen Menschen in Form einer Weihnachtskugel Werbung macht.
Weitere Buchtipps:
Body Politics, Rowohlt Polaris, 2021.
Magda Albrecht: Fa(t)shionista, Ullstein, 2018.
Sofie Hage: Happy Fat: Nimm dir deinen Platz! DuMont, 2020. (bzbasel.ch)
Solange man noch jung ist, hält der Körper das alles noch gut aus, scheinbar. Aber irgendwann ist dann fertig lustig. Und essen geniessen kann man übrigens auch, wenn man nur eine Portion isst und nicht stängig hochkalorisches Junkfood zu sich nimmt (das war mein Essverhalten mit Adipositas 1ten Grades).
Ich kämpfe zwar selber auch mit dem Gewicht, aber die empirischen Tatsachen lassen sich nicht leugnen.
Und nur weil der eigene Körper bereits Fett gewohnt ist und einem Abnehmen daher schwerer fällt, sollte man nicht aufgeben. Niemand ist perfekt, aber man kann an sich arbeiten.