Die Einzigen, die sich noch einen Kreativberuf wünschen, sind die, die noch nie professionell in einem gearbeitet haben. No offense, ich weiss, wovon ich spreche: Zumindest mein halbes Studium war ich davon überzeugt, Autorin werden zu wollen. Heute bin ich da nicht immer ganz so sicher – aber Erschöpfungstendenzen gehören bekanntlich zu jedem Beruf. Und sei er noch so schön.
Anders sieht es auf Instagram und Facebook aus: Plötzlich möchte jeder mit seinem Side-Hobby durchstarten, und auch Marketing-Podcasts wie jener von Ex-Food-Bloggerin und heutigem Business-Coach Beth Kirby tragen ihren Teil zur Verwirklichung der feuchten Profi-Träume bei.
Das Credo lautet: «Jeder hat eine Passion! Du musst nur hart genug arbeiten und dir eine passende Website dazu aufbauen – und los geht’s mit dem sechsstelligen Gehalt in zwei Jahren.»
Zumindest laut Kirby, die sich laut eigenen Aussagen heute eine Wohnung in Paris und ein Anwesen in Amerika leisten kann. Wenn sie das kann, dann müssen wir das doch auch können? Alle! Stricken, Kochen, Nähen, Basteln, Fotografieren, Schreiben – all das sind Tätigkeiten, die theoretisch jeder und jede zuhause erlernen kann, ohne sich dafür ein Zertifikat zu holen.
Das Slash-Careering revolutioniert gerade Deutschland: Fast drei Millionen Menschen haben einen Zweit-Job, und nicht immer ist die blanke finanzielle Not die Motivation.
Und so lese ich kürzlich auch im Emotion Magazin: «Eine Englischlehrerin kann in ihrer Freizeit als Yoga-Lehrerin arbeiten.» Gut ausgebildete Frauen, die sich dafür entscheiden, würden diesen Schritt nutzen, um Dinge zu tun, die Spass machen, sinnstiftend sind und der eigenen Persönlichkeit beziehungsweise den eigenen Fähigkeiten entsprechen.
Die Zeiten, in denen man also einfach so zum Sprachkurs ging oder im Garten Blumen fotografierte – längst passé. Jedes neu angefangene Hobby muss sofort einen höheren Sinn ergeben, und wenn wir schon nach Australien ziehen, soll zumindest ein spannender Travel- und Schnorchel-Blog dabei rauskommen.
Wenn die Entspannung dann trotz 10'000 Kilometern Entfernung nicht einsetzt, bieten wir im nächsten Monat einfach einen Online-Yoga-Kurs an. Das Wissen darüber? Haben wir uns von selbsternannten Yogi-Influencerinnen angeeignet.
Sinn hat heute stärker mit ökonomischer Verwertbarkeit, als mit innerem Frieden zu tun. Er wird dadurch generiert, dass eine noch stärkere Identifizierung mit dem Beruf stattfindet, als es ohnehin schon der Fall ist. Denn auch der Zweitjob soll ja irgendwo Früchte tragen. Beobachten kann man ausgezeichnet in den sozialen Netzwerken, wo gefühlt jede/r Zweite gerade ein eigenes Business gegründet hat.
Andrea ist jetzt DIY-Schmuckdesignerin mit Online-Shop, Frank schreibt Fantasy-Romane im Eigenverlag und Lara und Leo, die immer schon gerne Sport gemacht haben, posten jeden Abend ihre Routinen und Tricks zum Abnehmen – und angeln sich schon die ersten Kooperationen.
Ich frage mich: Hat denn das ganz normale Abschalten selbst keinen Reiz mehr, wenn wir nicht bis in die letzte Sekunde unseres Alltags beschäftigt sind – und sei es mit dem neuen Business?
«Das Leben selbst hat einen Eigenwert. Wem es also gelingt, sein Leben um seiner selbst Willen zu leben, der erfährt die wahre Lebensfreude. Einen tieferen Sinn gibt es nicht!», schrieb schon der deutsche Philosoph Friedrich Kambertel. Bereits für die antiken Philosophen wie Aristoteles lag der Sinn des Lebens in der eigenen Glückseligkeit.
Jetzt stellt sich die Herausforderung, ob man mit einem etwaigen Zweitberuf tatsächlich mehr Sinn im Leben findet, wenn dieser irgendwann den ersten ersetzt und finanzielle Engpässe verursacht. Klar, wenn die neue kreative Tätigkeit den eigenen Fähigkeiten entspricht, spricht erstmal nichts gegen eine Neuorientierung. Problematischer finde ich für alle hauptberuflich Kreativ-Tätigen eher, dass durch diverse kreative Zweitjobs der Festanstellten ein geringeres Lohnniveau freigeschaufelt wird.
Denn: wenn ich mit meinem Zweitjob – sagen wir Hochzeitsfotografie – kein Geld verdienen muss, sondern meinem Leben gelinde gesagt einfach nur mehr Sinn verleihen möchte, nehme ich damit denjenigen die Chance, die hauptberuflich davon abhängig sind.
Meine Freundin D. zum Beispiel ist Ärztin und kocht in ihrer Freizeit so leidenschaftlich gerne, dass sie vor einem Jahr einen Food-Blog angefangen und dadurch erste Sponsoren an Land gezogen hat. Jetzt wiederum fragt sie mich, wie sie sich verhalten soll.
Ihr Zweitberuf fängt an, Geld abzuwerfen und Arbeit zu machen (E-Mails, Equipment, Web-Hosting). «Du kannst das auf gar keinen Fall gratis machen», sage ich ihr, immer im Hinterkopf, dass gerade eine Fotografin irgendwo in Österreich vermutlich am Existenzminimum als freie Schulfotografin schuftet.
Es sind also genau betrachtet zwei Dinge, die mich stören. Der gesellschaftlich und medial vermittelte Zwang, sich auch mal anderweitig zu betätigen und damit den flexiblen Kapitalismus (verschiedene Jobs in verschiedenen Branchen) hochzuloben, ohne sich der negativen, berufsbehindernden Konsequenzen für andere bewusst zu sein. Und andererseits die Verwechslung von Glückseligkeit durch Nichtstun mit der konstanten beruflichen Beschäftigung.
Können wir nicht mehr basteln, ohne daraus sofort ein Business entstehen zu lassen? Oder schreiben – zur persönlichen Verarbeitung?
Journalistin Olja Alvir schreibt und forscht zu kapitalistischen Machtstrukturen und sieht ein Problem darin, dass der moderne Mensch nicht mehr gewillt ist, Fähigkeiten lediglich durchschnittlich zu beherrschen, gegenüber watson sagt sie:
Das Motto lautet: Mach es sehr gut, oder mach es gar nicht. «Es gibt keine Wertschätzung dafür, wenn man Hobbys vielleicht nur mittelmässig gut ausführt – oder etwas wirklich nur zum Spass macht, auch wenn man etwas gar nicht kann.» Der Schlüssel zu einer besseren Gesellschaft liegt laut Alvir darin, dass man sich erlaubt, mehr Dinge nicht (!) gut zu können.
Sonst vergessen wir noch am Ende, dass nicht nur unser Bankkonto, sondern auch das Zeitkonto zählt. Wollten wir von Letzterem nicht mehr haben, indem wir weniger arbeiten – und nicht in zwei Jobs rund um die Uhr – selbst, wenn es sich erst nicht nach Arbeit anfühlt? Haben wir vergessen, was Freizeit bedeutet, und sind deshalb unfähig, uns bei einem richtigen Hobby zu entspannen? Einem, das man wirklich aus purer Freude nachgeht. Ohne Hintergedanken zur perfekten Vermarktbarkeit der eigenen Interessen.