Und nun wieder zurück zum Artikel.
«Seit ich mit meinem Mitbewohner Sex hatte, verhält er sich total merkwürdig – da musste ich einfach aus dem Haus», sagt sie geradeheraus, als ich sie frage, ob sie oft hierher komme. Vor fünf Minuten habe ich Carly in einem Aktzeichnungskurs kennengelernt. Während wir Rotwein trinken und skizzieren, plaudern wir weiter und tauschen bald Nummern aus.
Wir sollten uns zwar nie wieder hören, aber einen wichtigen Grundstein zum Aufbau einer möglichen Freundschaft hatte sie gelegt: Öffne dich und erzähle anderen von dir selbst! Das schafft Vertrauen und führt im Idealfall dazu, dass sich das Gegenüber ebenfalls öffnet. Das ist ganz im Sinne meiner eigenen Taktik. Für manch einen mag das «tmi» (too much information) sein, ich aber schätze es, wenn es mit neuen Leuten gleich ans Eingemachte geht.
Seit bald einem Jahr lebe ich in New York und pflege, wie so viele, eine Hassliebe zur Stadt. Nebst der aufreibenden Job- und Wohnungssuche galt es auch, neue Freunde zu finden. Dutzende Menschen habe ich kennengelernt, etliche Nummern gesammelt und Freundschaftsanfragen auf Facebook angenommen. Richtige Freundschaften sind daraus nur wenige entstanden. In einer Stadt mit 8.5 Millionen Menschen sollte das nicht so schwer sein, würde man meinen.
Ach, wie einsam es hier doch sei, beklagen sich alle. Ein anderer oft wiederholter Satz von «gestandenen» Einwohnern: «Das erste Jahr ist das Schlimmste!». Damit meinen sie insbesondere den Aufbau von Freundschaften. Selbst in einer so schnelllebigen Stadt wie New York braucht es dazu nämlich vor allem eines: Zeit. Und die ist in dieser Metropole ein besonders hart umkämpftes Gut. Weitere Komponenten, die auf die USA im Allgemeinen oder New York im Spezifischen zutreffen, erschweren das Entstehen von Freundschaften zusätzlich: Die Suche nach dem Superlativ.
Bei der Suche nach Freunden wie in der Dating-Welt beschleicht einen das Gefühl, viele hielten stets Ausschau nach dem nächst Besseren. Will man sich wirklich drei Tage zuvor zu einer Verabredung verpflichten, wenn an dem Abend vielleicht «die» Elektro-Party im angesagtesten Club steigt? Lieber machen New Yorker kurzfristig Pläne und scheuen sich auch nicht davor, diese ebenso schnell wieder über den Haufen zu werfen. Hat man sich dann einmal verabredet, kommt garantiert eine Stunde vor dem Treffen die Textnachricht «Are we still on?» (Steht unsere Verabredung noch?). Ironischerweise beklagen sich viele New Yorker über genau diese Eigenheit. So nervig diese Sprunghaftigkeit sein kann, kann sie ebenso befreiend – und ansteckend – wirken.
An der Bar (oder auch gerne mal nüchtern) beteuert man sich seine Liebe und schwört sich ewige Treue – danach ist Funkstille und selbst nach der dritten Textnachricht kommt keine Antwort. Daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. Als ich nach drei Monaten in NYC meine erste Festanstellung feierte, lud ich spontan ein dutzend Leute zu mir nach Hause ein. Drei kamen. Von einigen erhielt ich gar keine Antwort. Dennoch habe ich den Abend sehr genossen und mittlerweile gelernt, die fehlende Kommunikation nicht allzu persönlich zu nehmen. Es warten ja bestimmt noch tollere Menschen da draussen auf mich ...
Hat man diese dann gefunden, gilt es aber weitere Hindernisse zu umschiffen: Von Manhattan nach Brooklyn kann es gut und gerne eine Stunde dauern. Wer will schon regelmässig für ein Feierabendbier von Zürich nach Bern pilgern? Vor allen Dingen dann nicht, wenn die Arbeit für viele erst spät abends – 21 Uhr ist keine Seltenheit – endet.
Alles hat seine Kehrseite: Die New Yorker mögen sich selbst als kühl bezeichnen, im Vergleich zu uns Schweizern, sind sie die Herzlichkeit in Person. Man kommt leicht ins Gespräch und wer alleine ausgeht, wird mit unzähligen neuen Bekanntschaften belohnt.
So verbrachte ich den 25. Dezember letzten Jahres alleine im Kino und teilte mir mit meinem Sitznachbarn, der mit Freunden da war, Popcorn. Im Café bei mir um die Ecke, in dem ich gerne arbeite, lernte ich meinen Bouldering-Buddy und meine Poledance-Freundin kennen. Gemeinsame Hobbies und verrückte Erlebnisse zu teilen, bringt einen erwiesenermassen näher. Daraus entstehen kaum Freundschaften fürs Leben, aber da lobe ich mir die Amis mit ihrer offenen Art und geniesse den Moment.
Einer meiner Freunde, mit dem ich regelmässig an Kunstausstellungen gehe, gab offenherzig zu:
Amerikaner ziehen gemäss dem U.S. Census Bureau im Durchschnitt 11.7 Mal in ihrem Leben um, Europäer hingegen nur vier Mal. Neuankömmlingen im «melting pot» kommt das sehr gelegen. Etliche Menschen sind genauso auf der Suche nach neuen Freunden und «ihrem Platz» in dieser Riesenstadt. Ein weiterer Pluspunkt ist die Trinkfreude der New Yorker – nicht nur in Bars, sondern auch an Geschäftsanlässen wird die anfängliche Scheu fleissig weggebechert. Bei meinem ersten Infoanlass als Deutschlehrerin führte der Redner uns mit einem Bier in der Hand durch seine Präsentation während das Publikum Pizza ass und ihm zuprostete.
New York ist gewiss ein hartes Pflaster, aber genau das macht das Leben hier so spannend und umso aufregender, wenn man es dann «schafft». Und wie mein südafrikanischer Freund (der dorthin zurückgezogen ist) zu sagen pflegt:
Wer eine positive Ausstrahlung hat, der wird mit positiven Menschen und Erlebnissen beschenkt. Und sollte man dennoch verzweifeln, kann man es immer noch wie jener Mann machen, der seine Katze im Central Park spazieren führte, in der Hoffnung Freunde zu finden.