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Cornelia Kazis: Der grosse Abschied vom Geliebten

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Witwen: Der grosse Abschied vom Geliebten

Verwitwete Menschen sind meistens Frauen. Auch die Autorin Cornelia Kazis hat vor einem Jahr ihren Mann verloren. Sie erzählt, wie ihr das Erinnern hilft und weshalb es schwierig sein kann, eine Zahnpastatube wegzuwerfen.
13.10.2019, 06:1113.10.2019, 12:08
Annika Bangerter / ch media
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Cornelia Kazis (67) sitzt in einem Basler Café, in einem Innenhof umrahmt von Altstadthäusern. Sie hält weder einen Stift noch ein Aufnahmegerät in ihren Händen. In den vergangenen Monaten hat sie Gespräche mit Witwen geführt und ein Buch über das Weiterleben nach dem Verlust geschrieben. An diesem Herbsttag erzählt die pensionierte Radiojournalistin von ihrer eigenen Trauer.

Bevor Ihr Mann gestorben ist, haben Sie ein spezielles Kleid gekauft. Es sollte in den schwersten Stunden nach seinem Tod als eine Art Schutzschild dienen. Hat Ihnen diese Vorbereitung geholfen?
Cornelia Kazis: Ja. Das Kleid war eine erste Konfrontation und eine Vorwegnahme von dem, was auf mich zukommen könnte. Ich habe es sogar meinem Mann gezeigt und gesagt: ‹Schau, das ist mein Witwenkleid. Du bist sehr krank, sieben Jahre älter als ich und ein Mann. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich Witwe werde, ist sehr gross.› Mir hat es geholfen, zu wissen, dass ich nach der Todesnachricht dereinst als Erstes in eine Ummantelung schlüpfen kann.

Was hat Ihr Mann dazu gesagt?
Er fand es schön, dass ich für mich sorge. Mein Mann lebte damals bereits elfeinhalb Jahre mit Krebs, eine chronische Krankheit, die ihn nicht stark im Alltag beeinträchtigte. Wir gingen davon aus, dass ich das Kleid allenfalls in zwei, drei Jahren tragen würde. Es dauerte aber nur vier Monate.

In Ihrem soeben erschienenen Buch erzählen sieben Frauen, wie sie nach dem Tod ihres Partners oder ihrer Partnerin weiterleben. Wie haben Sie den Verlust erlebt?
Als unglaublichen Schmerz, auch körperlich. In den ersten Tagen nach seinem Tod ging es darum, alltägliche Sachen zu schaffen. Aufstehen, duschen, sich anziehen, kochen, schlafen. Das brauchte viel Disziplin und Kraft. Es fühlte sich an, als ob ich aus der Welt gefallen wäre. Ich wunderte mich, dass die Trams noch fuhren. Ich wunderte mich, dass der Briefträger Post brachte, wo doch meine Welt untergegangen war. Ich war in Trance, verlegte permanent Sachen oder verlor Dinge. Weshalb ich Sekunden zuvor die Tür des Kühlschranks geöffnet hatte oder in den Keller gestiegen war, wusste ich manchmal nicht mehr.

Gab es Gefühle, die Sie überrascht haben?
Als der Tod da war, wusste ich: Nun hat mein Mann keine Schmerzen mehr. Rasch fühlte ich, dass er an einem sicheren Ort war, den ich nicht kannte. Ich musste mich nicht mehr um ihn sorgen. Es herrschte eine stille Klarheit. Das löste kurzzeitig eine Trauereuphorie aus. Es war ein Erlösungstaumel – anstatt tieftraurig war ich eigentlich glücklich. In der Theorie wusste ich um dieses emotionale Paradox, die Intensität erstaunte mich dennoch.

In Ihrem Buch schildern die Witwen, wie sie auf ganz unterschiedliche Weise zurück in einen Alltag fanden. Eine Frau stürzte sich in bis zu 20 Stunden lange Arbeitstage, eine andere brach zu einer Reise nach Hawaii auf. Was hat Ihnen geholfen?
Die Arbeit am Buch. Das war meine Art der Trauerbewältigung. Zudem wurde ich von einem Freundeskreis und meiner Familie getragen. Mir hat es auch geholfen, im Vorfeld schwierige Situationen wie den ersten Geburtstag oder den ersten Todestag durchzudenken. So wie es auch eine Frau im Buch schildert. Sie wusste, an Silvester werden rund um sie herum sich Paare in die Arme fallen. Deshalb nahm sie sich vor, im neuen Jahr als Erstes ihren Ehering zu küssen. Auch die Eroberung von neuen Tätigkeitsfeldern gibt Kraft.

Was machen Sie neu?
Ich fahre jetzt Velo, flicke Dinge im Haushalt oder führte erstmals das Auto in der Motorfahrzeugkontrolle vor. Es sind Alltagssituationen, nicht die grossen Geschichten. Aber sie geben einem das Gefühl von Selbstwirksamkeit. Gleichzeitig machen unvorhergesehene Alltagssituationen auch trauriger, als ich dachte.

Wann hat der Alltag Sie überrascht?
Als ich das erste Mal auf einem Formular den Zivilstand «verwitwet» ankreuzen musste. Ganz schwierig war es für mich auch, die Zahnpastatube oder die Seife wegzuschmeissen, die er noch benutzt hatte. Es waren Situationen, die das ‹Nie mehr›-Gefühl plastisch machten. Das erste Jahr ist diesbezüglich sehr hart, weil es viele solche Erlebnisse gibt.

Welche Reaktionen aus dem Umfeld haben Ihnen geholfen?
Die Frage ‹Wie geht es dir?› überfordert und ist kaum zu beantworten. Es ist leichter, auf den konkreten Zustand eine Antwort zu geben – etwa auf die Frage ‹Wie geht es dir heute?›. Auch gemeinsames Erinnern hilft. Ich bin nicht die Einzige, die trauert. Mit meiner Tochter gehe ich zum Beispiel jeden Samstag auf den Flohmarkt, wo wir immer etwas finden. Zu Hause überlegen wir uns dann, was mein Mann, ihr Vater, wohl dazu gesagt hätte. Das ist manchmal ganz heiter. Schön ist es auch, wenn jemand konkret Hilfe anbietet – etwa bei Computerproblemen zu helfen oder wenn es etwas Schweres zu tragen gibt.

Für Ihr Buch sprachen Sie auch mit Expertinnen. Die Historikerin Heidi Witzig beschreibt die früheren Erwartungen an verwitwete Frauen: Die hinterbliebenen Frauen hatten ein Jahr lang Schwarz zu tragen, und Festivitäten waren ihnen vorerst untersagt. Das ist inzwischen überholt. Haben Sie dennoch Erwartungen an Ihre Trauer oder Ihren Alltag erlebt?
Ganz subtile vielleicht. Es gab Komplimente, die mit Spitzen versehen waren. Mir wurde beispielsweise gesagt: ‹Ich bewundere dich, wie du schon wieder tanzen kannst, obwohl dein Mann doch erst gerade gestorben ist.› Wohlwissend, dass man in dieser Phase enorm dünnhäutig und sensibel für Zwischentöne ist, lösten solche Bemerkungen bei mir Fragen aus wie: Ist es in Ordnung, wenn ich tanze oder wenn ich lache? Höre ich heute Aussagen über andere Frauen, wie ‹Sie sollte mal loslassen und seine Kleider entsorgen›, macht mich das wütend. Jeder Mensch trauert anders. Die Vielgesichtigkeit von Trauerprozessen aufzuzeigen, ist ein zentrales Anliegen meines Buchs.

Ein Porträt handelt davon, dass der Verlust bereits vor dem Tod beginnen kann. Eine Frau, die ihren an Demenz erkrankten Mann gepflegt hat, beschreibt sich als «Witwe mit Mann».
Über dieses Thema des uneindeutigen Verlustes muss in der Schweiz viel mehr gesprochen werden. Auch über die 320'000 Witwen, das ist eine stattliche Zahl. Langzeitstudien zeigen, dass die Mehrheit es schafft, sich – in unterschiedlichem Tempo – zu erholen und eine neue Normalität aufzubauen. Sie beweisen viel seelische Widerstandskraft und Ressourcen. Resilienz ist in aller Munde und zur neuen Leistungsnorm avanciert. Da könnte man von den Witwen viel lernen. Man müsste sie einfach fragen.

Ihr Buch schildert auch aufwühlende Geschichten. Eine Frau beschreibt die erlebten zwanzig Jahre ohne ihren Mann als Tortur. Eine andere hat auch noch Jahre später Mühe, einzuschlafen.
Der Verlust ist da. Und er bleibt. Aber so unterschiedlich die Frauen und ihre Geschichten sind, alle haben sie es geschafft, Fuss im Neuland zu fassen. Ihre Aufbrüche und ihre Fähigkeiten zu neuen Erlebnissen finde ich sehr ermutigend. Die Frauen orientierten sich neu, bauten neue Freundschaften auf oder wagten sogar eine neue Liebesbeziehung. Das ist tröstlich.

Die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello sagt im Buch, wer verwitwet ist, muss sich neu erfinden. Sie auch?
Ja, denn der geteilte Alltag fällt weg. Das etablierte Wir gibt es nicht mehr. Ich musste beispielsweise lernen: Wie frühstückt man allein? Wie geht man allein ins Bett? Ich und mein Mann hatten viel miteinander gesprochen. Die plötzliche Stille beim Frühstück stimmte mich sehr traurig. Ich wollte deswegen jedoch nicht auf das Frühstück verzichten. Da griff ich auf eine andere Heimat zurück, auf Radio SRF 2. Dadurch hörte ich alte Kolleginnen und Kollegen und hatte wieder Stimmen im Ohr.

Sprechen Sie noch mit Ihrem Mann?
Am Abend, wenn ich allein ins Bett gehe, erzähle ich ihm von meinem Tag. Ich glaube, er hört es. Manchmal wende ich mich auch tagsüber an ihn. Wenn ich beispielsweise einen Auftritt habe, berühre ich seinen Ehering und frage ihn: Kannst du mir bitte beistehen, dass es klappt? Das tut gut. Mein Mann ist tot, aber die Beziehung zu ihm geht weiter.

Ihr Mann ist vor 14 Monaten gestorben. Wie geht es Ihnen heute?
Es geht mir relativ gut, mein Mann wäre stolz auf mich. Ich kann das Gute im Schlimmen erkennen: Wir sind in Liebe auseinandergegangen, ich habe eine Familie, die mit mir trauert, und fühle mich in meinem Umfeld aufgehoben. Gleichzeitig möchte ich die Trauer nicht ganz verlieren – sonst geht noch etwas von ihm weg.

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28 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Corny
13.10.2019 09:42registriert Dezember 2018
Welch ein Geschenk, mit seiner grossen Liebe zusammen zu sein. Auch wenn der Abschied dann umso schwerer ist.
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Theor
13.10.2019 10:32registriert Dezember 2015
Ganz starkes Interview in einer Welt/zu einer Zeit, wo gerade wir Jungen Gefahr laufen, überhaupt noch den Wert von einer beständigen Beziehung zu schätzen.

Vieleicht soll es nicht mehr sein, dass man in 30 - 40 Jahren immernoch so an einem anderen Menschen hängen wird; aber mir als Romantiker tut es gut, zu lesen, dass es auch immernoch Menschen gibt, die zusammen Alt werden können und sich bis in den eigenen Tod treu bleiben und einander vermissen können.

Es gibt mehr da draussen als immer nur "Ich", wenn die zwei richtigen einander finden, ist das "Wir" immer noch das schönste Pronomen.
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bcZcity
13.10.2019 10:31registriert November 2016
Am schlimmsten ist es wohl, die Endgültigkeit zu konfrontieren. Man kann noch so lange die Türe anschauen, wo der geliebte Mensch 1000x durchgekommen ist, er kommt nie mehr. Er wird nie mehr mit einem sprechen. Für die Ewigkeit!

Für den menschlichen Verstand, wahnsinnig komplex!

Trost findet, wenn man dies vollständig akzeptiert und dem Gehirn klar macht dass dieser Mensch wirklich nicht mehr ist und es dem geliebten Menschen "besser" geht, egal auf welche Art o. Religion o.a.

Die Erinnerung bleibt, bis man selber das Ticket zur letzten Fahrt einlöst, welches wir alle immer bei uns tragen.
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