Es ist 11.30 Uhr an einem Dienstagmorgen. Darius Catana ist gerade dabei, für seine Halbjahresprüfungen zu üben. Im Gegensatz zu anderen Studierenden sitzt er dafür nicht in einer Unibibliothek vor seinem Laptop – Darius Catana befindet sich in einem der Ballettstudios im siebten Stockwerk der Zürcher Hochschule der Künste, wo er die Ausbildung an der Tanz Akademie Zürich (taZ) absolviert. Im Juli wird er, sofern er alle seine Lehrabschlussprüfungen besteht, ausgebildeter Bühnentänzer mit Fachrichtung Klassischer Tanz sein – er und 17 weitere Absolventen im Alter von 17 bis 19 Jahren.
Während die kalte Luft und der bissige Wind draussen im Gesicht schmerzen, strömt einem beim Betreten des Tanzstudios schnell Wärme entgegen. Die elf Männer des Absolventenjahrgangs durchlaufen hier ihre Prüfungsexercises – die Folgen, welche die Schüler an den Prüfungen vortanzen müssen – unter der Aufsicht des Gesamtleiters Oliver Matz. Die Männer trainieren seit einer halben Stunde, ihre weissen T-Shirts sind bereits schweissdurchnässt. In Gruppen von drei bis vier Schülern treten sie in die Mitte des Raums, tanzen mit gestreckten Beinen ihre Folgen, springen in die Luft und landen sanft und fast geräuschlos wieder auf dem Boden.
Im Gespräch wirkt Catana älter, insbesondere reifer, als ein 17-Jähriger dies sonst tut.
, erklärt er. Catana war elf, als er aus Rumänien in die Schweiz kam – alleine. Während andere Kinder in diesem Alter kaum einen Gedanken an ihre Zukunft verschwenden, hatte sich Catana damals schon für eine Karriere auf der Bühne entschieden. Dies, nachdem Steffi Scherzer, Künstlerische Leiterin der taZ, ihn an einem Wettbewerb in Belgien gesehen und anschliessend in die Schweiz eingeladen hatte. Obwohl das für ihn bedeutete, seine Familie zu verlassen, sei ihm die Entscheidung leicht gefallen.
, sagt er.
Seit er in Zürich ist, hat Catana drei Jahre im Grundstudium durchlaufen und wurde anschliessend ins Hauptstudium aufgenommen, das ebenfalls drei Jahre dauert – diesen Schritt schaffen nicht alle Tänzer, nur die besten werden zugelassen. An der taZ seien er und seine Mitschüler gut ausgebildet und auch international gut aufgestellt – Angst, nach der Ausbildung keinen Job zu finden, habe er nicht. «Es gibt zwar viel Konkurrenz und weniger Stellen als in anderen Berufen», meint er. «Aber das spornt mich an, noch besser zu werden.» Der Konkurrenzkampf halte ihn davon ab, zu bequem zu werden, sagt Catana. Die Chance, mal arbeitslos zu sein, gebe es ohnehin in jedem Beruf.
Und dennoch ist die Arbeitslosigkeit in der Kunst höher: Im Bereich Wirtschaft und Dienstleistungen beispielsweise liegt die Erwerbslosenquote ein Jahr nach dem Masterabschluss laut dem Bundesamt für Statistik bei 2.5 Prozent. Im Theater, der Musik und den anderen Künsten liegt sie zum selben Zeitpunkt bei 5.1 Prozent. Und für einen Teil derjenigen, die einen Job finden, ist es nicht der einzige:
, sagt Caroline Süess, Mediensprecherin der Zürcher Hochschule der Künste.
Mitten in den Proben steckt auch Germaine Sollberger – nicht für Prüfungen, sondern für ihre nächste Premiere: Sie tritt am Theater Basel auf. Dort verbringt die 24-Jährige, die sonst an der Hochschule der Künste Bern (HKB) Theater studiert, das letzte Semester ihres Bachelorstudiums. «Eine Art Praktikum», erklärt sie. «Julien – Rot und Schwarz» heisst das Stück von Lukas Bärfuss, für das Sollberger auf der Bühne steht – erstmals eine richtige Stadttheaterbühne, wie sie erzählt.
, sagt sie. «Ich habe sogar eine Souffleuse, falls ich mal den Text vergessen sollte.» Sollberger spielt die Wäscherin Elisa, «eine kleine, feine Rolle», wie sie selber sagt.
«Ich habe in mir ein Grundvertrauen, dass alles gut kommt.» Germaine Sollberger , Schauspielerin Bachelor © CH Media
Ihr Jahrgang an der Hochschule der Künste in Bern besteht, Sollberger mit eingerechnet, aus neun Studierenden. Der Jahrgang unter ihr umfasst zehn Studentinnen und Studenten. Im Master sind es ähnliche Zahlen: 2019 haben sieben Studierende abgeschlossen, 2018 waren es zwölf. Sollberger ist also eine von wenigen, die sich getraut haben, den Schritt auf die Theaterbühne zu wagen.
Hat sie die Entscheidung je bereut? Sie reisst ihre Augen weit auf, scheint von der Frage irritiert. «Nein, nie», sagt sie, keine Sekunde zögernd.
, betont sie. Im Sommer wird sie es abschliessen, danach folgt der Master. Die Frage, was nach dem Abschluss geschieht, ist aber trotzdem bereits aktuell. «Aber ich habe in mir ein Grundvertrauen, dass alles gut kommt», erzählt sie. «Ich denke, das ist eine Charaktereigenschaft, die in einem Studium wie meinem von Vorteil ist.»
An den Stadttheatern der Schweiz liegen die Mindestlöhne zwischen 3800 und 4200 Franken brutto im Monat. Für die freie Theaterbranche gibt es keine Zahlen – zu unregelmässig sind die Einkommen dort. Sollberger möchte am liebsten in der freien Theaterszene aktiv sein und für Projekte auf der Bühne stehen, die sie selber mitentwickeln kann.
Die Sicherheit eines monatlich fixen Einkommens werde sie daher mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht haben, sagt sie. «Angst habe ich deswegen aber nicht. Im Notfall kann ich mich immer mit Nebenjobs über Wasser halten», meint sie. Die Vorteile, in einem Feld zu arbeiten, in dem sie sich kreativ entwickeln und äussern kann, würden gegenüber der Sicherheit überwiegen.
Nachwuchsschauspielerin Germaine Sollberger ist eine von nur Wenigen, die im Bachelor Schauspiel studieren. © CH Media
Ausserdem sei die Theaterlandschaft in der Schweiz im Vergleich zum nahe gelegenen Ausland vorteilhaft:
, erklärt Sollberger. Sie zweifelt daher nicht daran, dass sie ihre Zukunft so umsetzen kann, wie sie sich diese vorstellt.
Der Reiz, etwas Kreatives zu machen, vermeintlich weniger den Zwängen der Leistungsgesellschaft ausgesetzt zu sein, sich selber zu verwirklichen, das macht die künstlerischen Berufe so attraktiv. Die Künstlerin, der Musiker, die Schriftstellerin stehen für schöpferische, selbstbestimmte Tätigkeit – und im besten Fall auch für Ruhm. Das lockt. Die Kulturszene hat sich zudem professionalisiert, es gibt tatsächlich mehr Jobs, sei es als Kulturmanager oder als Kuratorin. Ausserdem relativiert sich das Bild des brotlosen Künstlers, wenn man die ersten Jahre übersteht.
, sagt Caroline Süss von der Zürcher Hochschule der Künste. Aber nach einigen Jahren gleiche sich das aus. So ist die Erwerbslosenquote fünf Jahre nach dem Masterabschluss bei 0.5 Prozent, wie auch bei den wirtschaftlichen Studiengängen.
Auch Michael Cina hat sich für die Kunst entschieden – wenn auch erst im zweiten Anlauf. Als zu riskant schien es ihm zuerst, ganz auf die Jazzmusik, die er liebt, zu setzen. Er schrieb sich deshalb an der pädagogischen Hochschule ein. Doch das Studium gefiel ihm nicht, nach nur wenigen Monaten brach er es wieder ab. Während Cina seinen neuen Weg plante, dachte er an seine Zeit als Austauschschüler in Montreal zurück, Während der er sich intensiv der Musik hingegeben konnte, als Schlagzeuger in einer Band spielte und den Jazz richtig kennenlernte. Er entschied sich schliesslich für das PreCollege an der Swiss Jazz School in Bern, einem Bachelor-Vorbereitungskurs.
«Meine Mutter hatte gar kein Problem damit, mein Vater hatte anfangs aber etwas Mühe», erinnert sich Cina. «Er konnte sich schlicht nichts unter dem Studiengang vorstellen und wusste nicht, wie ich damit Geld verdienen sollte. Er machte sich einfach Sorgen um mich», erklärt Cina. Trotzdem wagte er den Schritt: Nach dem erfolgreichen Vorspielen begann er im Herbst 2015 den Bachelor-Studiengang «Musik Jazz» an der HKB.
Was im Nachhinein nach einem schnell getroffenen Entschluss klingt, war alles andere als einfach:
, sagt Cina, während er mit den Fingern auf seinem Oberschenkel herumtrommelt. «Mehrmals habe ich sogar ans Aufhören gedacht.» Der Sprung, das Schlagzeug vom Hobby zu seinem alltäglichen Lebensinhalt zu machen, sei ihm unglaublich schwer- gefallen. Doch er hat nicht aufgehört, hat das Studium durchgezogen. «Das war die einzig richtige Entscheidung», sagt er heute.
Nach dem Bachelorstudium hat sich Cina für den Performance-Master entschieden. Er hätte auch die Komposition oder die Pädagogik wählen können. Nur wenige entscheiden sich für die Performance: Vergangenes Jahr haben lediglich vier Studenten den Studiengang abgeschlossen, das Jahr zuvor waren es drei. Der Master «Music Composition» mit Vertiefung Composition und Arrangement Jazz brachte in den letzten Jahren je zwischen vier und sechs Diplomanden hervor. Die meisten Studierenden entschieden sich für «Music Pedagogy – Jazz»: Jeweils neun bis elf Diplome gab es in den vergangenen drei Jahren.
Letzterer Studiengang führe oft zum Beruf des Musiklehrers, wie Cina erzählt. Eine Festanstellung, ein fixes, monatliches Einkommen und mehr Sicherheit sind die Vorteile dieses Wegs.
, meint Cina. Doch er sieht auch Nachteile: Das eigene Spielen könne dabei manchmal verloren gehen. «Es ist zwar nicht bei allen so – aber einige Musiklehrer spielen nur noch mit den Schülern und hören auf, ihr eigenes Ding zu machen», sagt Cina. «Das hat mir mehr Angst gemacht, als dass es mir Sicherheit gegeben hätte.»
Trotzdem mache er sich ab und an Sorgen um die Zukunft. «Natürlich fragt man sich, wie es nach dem Studium weitergeht», sagt er. Er habe sich aber bewusst für diese Karriere entschieden und wisse, dass sie ihn wohl nie reich machen wird. «Aber das brauche ich auch nicht», sagt er. «Als Sohn eines Arztes und einer Ärztin bin ich mit einem Standard aufgewachsen, den nicht alle haben», ist sich der 26- Jährige bewusst. «Deshalb weiss ich aber auch, dass ich das nicht benötige. So lange das, was ich tue, mich glücklich macht, ist alles in Ordnung.» Und wenn ihm das Geld mal nicht ausreichen sollte, könne er immer noch auf Nebenjobs zurückgreifen. Dass es besonders zu Beginn schwierig werden könnte, darauf habe er sich eingestellt:
(aargauerzeitung.ch)