Wenn eine Story damit beginnt, dass gleich zu Beginn das Ende verraten wird, dann muss sie entweder wahnsinnig gut sein – oder aber über unglaublich interessante Protagonisten verfügen.
Auch die Doku «Tiger King: Murder, Mayhem and Madness», aktuell auf Netflix zu sehen, wagt es, die Katze gleich zu Beginn aus dem Sack zu lassen: Zoodirektor Joe Exotic sitzt im Gefängnis, verurteilt dafür, dass er seine Gegenspielerin, die selbsternannte Tierschützerin Carole Baskin, von einem Auftragskiller umbringen lassen wollte.
So.
Nun, da wir bereits wissen, wohin die Reise führt, stellt sich die Frage: Ist die Story davor genug gut, dass man gleich mit der Auflösung des Plots beginnen kann? Gibt es genug Drama?
Oh ja. Es gibt Drama ohne Ende. Oder frei nach Mark Renton: «Nimm ‹Denver Clan›, multipliziere es mit 1000, und du bist immer noch lange nicht dort.» Intrigen, Mord, Sex, Drogen, Hochzeiten, Polygamie, Beerdigungen, Waffen, Machtkämpfe, Unfälle, Anschläge – «Tiger King» lässt nichts aus. Sieben Folgen lang Staunen. «Tiger King» ist das real gewordene «Fargo».
Und was ist mit den Protagonisten?
Eieiei. RTL-2 müsste seine auf menschliche Abgründe dressierten Trüffelschweine wohl zwei Jahre suchen lassen, bis die eine derart exquisite Gauklertruppe beisammen hätten.
Beginnen wir mit dem Hauptcharakter Joe Exotic: Eine extrovertierte Mischung aus Willie Nelson und einem gescheiterten Hinterhofwrestler. Mit über 200 Tigern ist er der grösste Grosskatzenbesitzer Amerikas. Sein Geld verdient er mit der Zucht, denn Tigerbabys sind ein Geschäft. In den USA leben zwischen 5000 und 10'000 Tiger in Gefangenschaft. Das sind mehr als der weltweite Bestand in Freiheit.
Exotic trägt sein Herz auf der Zunge. Doch wurde dieses bereits so oft verletzt, dass dort vor allem Gift und Galle entweicht – auf direktem Weg. Den Umweg über den Denkapparat hat er sich abgewöhnt. Umwege mag Joe Exotic sowieso nicht. Seine Methoden sind wie die meisten seiner Ehemänner: straight und plemplem.
Neben seiner Tätigkeit als Züchter betreibt Joe Exotic eine Art Zoo, den Greater Wynnewood Exotic Animal Park in Oklahoma. Besucher können sich mit einem Tigerbaby fotografieren lassen oder mit einem Neugeborenen spielen. Körperkontakt garantiert. Auch seltene weisse Tiger, Liger und Töwes tummeln sich in seinen Gehegen.
Dieses Gebaren ist Carol Baskin ein Dorn im Auge. Sie betreibt ebenfalls einen Grosskatzenpark, den Big-Cat-Rescue-Park in Florida, mit Geld, das sie vor Jahren von ihrem zweiten Ehemann erbte. Ihre Ziele sind natürlich viel hehrer als diejenigen von Joe Exotic. Baskin beschützt die Tiere und bietet ihnen ein lebenswürdiges Umfeld, wenn irgendwo in den USA wieder ein Grosskatzenbesitzer den Spass an seinem Spielzeug verliert.
Doch auch ihre Fassade bröckelt. Baskin kam zu ihren Millionen, als ihr Ehemann spurlos verschwand. Und das just, nachdem er die Absicht geäussert hatte, sich von ihr scheiden zu lassen. Wohin verschwand er? Etwa im Rachen eines Tigers? Baskin verwirft die Theorie mit theatralischem Augenrollen. Jedem Hobby-Lügendetektor schrillen bei dieser Szene sämtliche Alarmglocken.
Exotics Zoo ist Carol Baskin ein Dorn im Auge. Und deshalb geht sie nicht nur gerichtlich gegen den Exzentriker vor, sondern mobilisiert auch ihre Social-Media-Community. Die Welle, die sie damit lostritt, hätte sie in dem Umfang wohl so nicht antizipiert und sie liefert den roten Faden in diesem Redneckdrama.
Doch damit ist nicht genug: Ein ehemaliger Strip-Club-Besitzer mischt sich ein, ein Hochstapler aus Las Vegas, ein Ex-Drogenschmuggler aus Miami, ein Guru, drogensüchtige Burschen, Ex-Sträflinge – es ist ein Schaulaufen von Milieufiguren (mit hervorragenden Frisuren). Trotzdem bietet «Tiger King» aber weit mehr als einfach nur RTL-2-Trash mit angeknabberten Protagonisten.
Die Doku ist eine eindrückliche Studie des in Europa so oft unterschätzten amerikanischen Lebensgefühls des «Do it yourself» – und der tödlichen Verbissenheit, mit der darum gekämpft wird.
In Europa wird dem Staat und seinen Leistungen mehr oder weniger Respekt gezollt. Die Bürger werden in die Pflicht genommen und es werden Spielregeln definiert. Im Gegenzug erhalten sie Leistungen und eine gewisse Sicherheit.
Die Welt von Joe Exotic sieht anders aus. Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand – schon gar nicht der Staat, lautet hier die Devise. Dafür sollen sich der Staat oder auch andere Fremdlinge aber auch nicht erfrechen, Regeln auferlegen zu wollen. Aus europäischer Sicht ist das Wildwest in Reinkultur. Viele rurale Amerikaner sind sich anderes nicht gewohnt. Für sie ist es die grosse Freiheit.
Als eine Raubkatze der Mitarbeiterin Kelci Safferi in Exotics Park den Arm zerfetzt, entscheidet sie sich nicht für den langwierigen Prozess der Rehabilitation. Eine Krankenkasse, die dafür aufkäme, hat sie vermutlich nicht. Und so etwas wie Arbeitnehmerschutz gibt es für sie auch nicht. Nicht in Oklahoma. Dafür kriegt sie 150 Dollar pro Woche Lohn und eine von Ratten zerfressene Unterkunft. Sie lässt sich deshalb den Arm amputieren. Wenige Tage nach dem Unfall steht sie wieder im Zoo und packt an. Mit einer Hand weniger. In die Kamera erklärt sie die Situation freilich anders. Das sei halt ihr Umgang, diese Situation hinter sich zu bringen.
So hart eine solche Welt ohne Netz und doppelten Boden ist, so interessant ist es, ihren Protagonisten aus der gemütlichen europäischen Stube heraus zuzugucken. «Tiger King» erklärt Amerika. Ein Amerika ausserhalb von New York und Los Angeles, ein Amerika, in dem niemand Joe Exotic zu sagen hat, wie er zu leben, wie er seine Tiere zu halten, wie er sein Business zu führen hat. Kein Rechtsstaat und auch keine Carole Baskin. Das Bild, wie sich Joe Exotic dafür jeden Tag in den Käfig voller Löwen wagt, passt für die amerikanische Gesellschaft wie die Faust aufs Auge. Es ist hartes Pflaster. Und vom King zur gescheiterten Existenz ist's nur ein Katzensprung.
Später auch als Haushälterin bei Charlie Harper.
PS: Die gute Frau (die Baskin und nicht Basket heisst) ist doch offensichtlich schuld am Tod ihres ersten Ehemannes...