Beth Harmon kommt aus den unharmonischsten Verhältnissen, die überhaupt denkbar sind: Vater weg, Mutter begeht Suizid, Beth kommt ins Heim, aber hey, im Keller haust der Hausmeister und der ist kein bisschen creepy und bringt ihr Schach bei. Natürlich ist Beth ein Schachwunderkind, und obwohl sie schwerst tablettenabhängig ist, schlägt sie alle, auch die Russen, und dies mit Hilfe ihrer ebenfalls schachgenialen und extrem streetsmarten Freunde (hier gehts zu Baron Baronis Kommentar).
Im Grunde ist der Netflix-Überhit «Queen's Gambit» eine klischierte Aufstiegsgeschichte. Aber hinreissend gespielt und inszeniert. Und obwohl sie zu weiten Teilen bloss aus Schachpartien besteht, irrsinnig spannend. Die Schach- und Russlandexpertise stammt dabei vom ehemaligen Weltmeister Garri Kasparov.
Erst wurde Kasparov die Rolle eines schier unschlagbaren Russen angeboten, doch dann las er das Drehbuch und wurde lieber zum Skriptdoktor, seine Angst, die Schach-Community könnte sich über «Queen's Gambit» mokieren, war zu gross: Er zeigte Netflix, wie die Schachpartien professionell und die Körpersprache der Spielenden authentisch wirken. Und wie man sich das mit den Russen und dem KGB wirklich vorstellen muss.
«Erfreulich professionell» sei das herausgekommen, bestätigt uns der 1889 gegründete Schweizerische Schachbund (SSB), der «Queen's Gambit» selbstverständlich und gern gesehen hat. So wie überhaupt die halbe Welt «Queen's Gambit» gesehen zu haben scheint. Das Interesse an Schach bricht seit Oktober alle bisherigen Rekorde. Amerikanische Online-Plattformen melden eine Zunahme ihrer Spielerinnen und Spieler zwischen 50 und 500 Prozent. Die Medien graben immer neue Schachwunderkinder aus entlegenen Weltgegenden aus, die «New York Times» titelt «Wie Queen's Gambit Frauen zum Schachspielen bringt».
Und wie ist das in der Schweiz? Der Boom sei «mehr als nur spürbar», teilt uns der SSB mit, allerdings vor allem medial. Trotzdem hofft der SSB, dass der Anteil von Spielerinnen auch dank der Netflix-Serie von 6.45 auf 10 Prozent erhöht werden könne. Ein Frauenanteil, den auch die Schweizer Armee anstrebt. Allerdings würden sie bereits seit Jahren eine kontinuierliche Mädchen- und Frauenförderung betreiben. Und die macht sich sichtbar: «Glanz & Gloria» porträtierte vor wenigen Tagen die 21-jährige Berner Spitzenspielerin Lena Georgescu, «Der Beobachter» dokumentierte im Sommer das Leben der 16-jährigen Aargauer Gymnasiastin Gohar Tamrazyan unter Corona.
Schon 2019, sagt der SSB, habe Gorhan «einen auf Beth Harmon» gemacht, indem sie «die grosse Überzahl an jungen Männern gänzlich in die zweite Reihe verbannte und sensationell als erste junge Frau U16-Schweizer-Meisterin ‹bei den Jungs› wurde». Gohar erhielt ihr erstes Schachbrett mit 5, doch da benutzte sie es bloss als Spielzeug. Mit 8 war sie dann bereits an Turnieren anzutreffen und besiegte Männer, die gut acht Mal so alt waren wie sie.
Absolut und ganz konkret spürbar sei der Boom, schreibt uns auch chesspoint.ch, der grösste Anbieter für Figuren, Bretter und Uhren, sie seien fast ausverkauft, würden aber vor Weihnachten noch einmal eine grosse Lieferung erhalten. Besonders erstaunt ist chesspoint über die ungewöhnlich hohe Nachfrage nach mechanischen Schachuhren: «Das kann man nur auf die Serie zurückführen, denn in den letzten Jahren wurden sonst meistens digitale Schachuhren gekauft. Nur ältere Menschen haben zwischendurch noch eine mechanische gekauft.»
Natürlich verrät die mechanische Schachuhr den nostalgischen Laien. Die Gadget-Liebhaberin. Schach ist ästhetisch. Materiell und immateriell. Bretter und Figuren gibts schliesslich nicht nur als grafisch simpel bestechende Online-Ausführungen, sondern physisch in jeder möglichen (Luxus-)Ausstattung: aus Edelhölzern, Marmor, Metall, Kristall und in ihrer perversesten Ausführung gar aus Mammut-Elfenbein. Kein Wunder, darf in Filmen in den Häusern reicher Menschen ein Schachspiel als Accessoire nie fehlen.
Schach ist sowas wie «Game of Thrones» auf 64 Feldern. Archaisch und aristokratisch in seinem Personal: An vorderster Front werden Bauern verfeuert, wenn ihnen nicht ein paar ihrer flinken Hakenschläge gelingen, hinter ihnen warten Springer auf ihren Pferden und Läufer. Flankiert werden sie von den stur geradeaus stürmenden Türmen, und sie alle beschützen König und Königin. Wobei die Königin die agilste und damit gefährlichste Figur ist, Läufer und Turm in einem, während sich der König nur gerade in Ein-Feld-Schritten oder Rochaden mit den Türmen bewegen kann.
Die Königinnen können tatsächlich so durchtrieben und mächtig sein wie eine Cersei oder eine Daenerys. Trotzdem ist Schach ein zutiefst militärisches Spiel. Was gewiss mit zur traditionellen und noch immer ungebrochenen Übermacht der Männer in der Schachwelt beiträgt.
Die Regeln sind überschaubar. Die Möglichkeiten, wie aus ihnen Spielzüge und ganze Partien werden, sind es nicht. Als Druckmittel kommt im Wettkampf die Zeit hinzu, die Doppelstoppuhr, ob analog oder digital. Es ist grossartig. Und es ist unter Wettkampfbedingungen noch grossartiger: Der Zeitdruck übersetzt sich in eine höllisch geschärfte Wahrnehmung des Gegners und seiner Schlachtenführung, die Lust, mit der man die gegnerischen Figuren dezimiert, ist mörderisch.
Okay, Gamer kennen das bestens. Umso erstaunlicher ist es, dass «Queen's Gambit», die Retro-Serie rund um ein Jahrhunderte altes Spiel, derart eingeschlagen hat. Wahrscheinlich dürfte neben der Ästhetik und der Erfolgsgeschichte auch die Übersichtlichkeit und harte Regelhörigkeit des Schachspiels ein Grund dafür sein. Denn wahrscheinlich liefert die Serie gerade in diesem verflucht unübersichtlichem Jahr, in dem nur die allerhärtesten Regeln Früchte tragen, sowas wie ein kleines Sicherheitsgefühl. Schach vermittelt Ordnung und Schönheit. Beth Harmon kann sich noch so sehr gehen lassen – zwei Dinge retten sie immer, das Schachspiel und ihre Freunde.
Oliver Marti, Geschäftsführer und Pressesprecher des Schweizerischen Schachbundes, ist es wichtig, dass ein Harmonscher Drogenkonsum heute selbstverständlich nicht denkbar ist: «Unsere Schachspieler(innen) unterliegen dem Doping-Gesetz von Swiss Doping (seit 2000 sind wir Mitglied von Swiss Olympic)», schreibt er uns, «wir haben da also Kontrollen im Gegensatz zu den Zeiten, wo die Netflix-Serie spielt. Ganz aus der Luft gegriffen ist der Betäubungsmittel-Teil aber nicht, die Ex-Weltmeister Mikhail Tal und Alexander Aljechin waren sehr dem Alkohol verfallen. Von Tal sagt man, er habe mehrere Flaschen Wein pro Partie heruntergekippt und mit nur einem Streichholz zu Beginn dann immer mit dem Stummel der alten die neue Zigi angezündet.»
Gedreht wurde die Serie, die zum Schachboom führte, übrigens weitgehend in Deutschland. Beths Waisenhaus ist ein Schloss in Brandenburg, das tolle Turnier-Hotel in Mexiko in Wirklichkeit der Berliner Friedrichtstadtpalast, das Bode-Museum bot Pariser Interieurs und die Moskauer Strassenszenen wurden in der Karl-Marx-Allee gedreht. Einzig ein paar Aussenaufnahmen stammen aus Kanada. Als wäre Berlin samt Umland selbst so ein Schachbrett, auf dem ein ganzes Königreich für eine Serie zusammenkommt.
P.S. Apropos reich: Man kann auch in der Schweiz mit Schach ein bisschen reich werden. Sollte ein Schweizer Nachwuchsspieler vor seinem 20. Geburtstag den internationalen Titel eines Grossmeisters in seiner Alterskategorie erlangen, erhält er dafür von der Schweizer Jugendschachstiftung ein Kilo Gold. Sollte eine Schweizerin im Frauenwettkampf den Titel einer Grossmeisterin erlangen, erhält sie ein halbes Kilo. Und sollte es ihr gelingen wie Gohar Tamrazyan oder Beth Harmon auch noch «bei den Jungs» zu gewinnen, was möglich ist, so erhielte sie zum halben noch das ganze Kilo hinzu. Das wären dann gut 80'000 Franken.
P.P.S. Die Autorin dieses Artikels spielte als Kind leidenschaftlich gerne Schach, schaffte es mal auf den 2. Platz eines Schulhausturniers und war damit das beste Mädchen, vermutlich war dies einer der schönsten Tage ihres Lebens, sie hat es nur nicht gemerkt und das Schachspiel auch nie als mögliche Karrieremöglichkeit in Betracht gezogen.
Und Schach ist auch ein Interessantes Spiel (auch wenn ich grottenschlecht darin bin)
Und wirklich gut zu werden muss man wohl wie die Hauptfigur viele Bücher lesen und üben, üben, üben, üben - Partien nachspielen ......ein wirklich sehr komplexes Spiel.
Ich habe als Kind selber Turniere gespielt, weil wir einen Klassenlehrer hatten, der ein absoluter Schach Fan war und es deshalb als Freifach für die Klassen 5 bis 9 angeboten hat.
Mit vielen Schulfreunden von damals spiele ich heute noch ab und zu.