Für Detective Robert Parker (Eric Lange) ist der Fall bald klar. Schliesslich kommt Detective von Deduktion und das heisst schon seit Aristoteles, dass aus einem allgemeinen Erfahrungswert auf den Einzelfall geschlossen werden kann. Und der Erfahrungswert sagt nun mal, dass vergewaltigte Mädchen lügen. Nicht alle natürlich, aber jene, bei denen keinerlei Spuren des Verbrechens zu finden sind oder nur solche, die vom angeblichen Opfer selbst inszeniert worden sein könnten.
Die 18-jährige Marie Adler (Kaitlyn Dever) zum Beispiel ist für ihn ein Paradefall: Als Kind war sie komplett verwahrlost, wurde sexuell missbraucht, ass vor Hunger Hundefutter, wurde später von einer Pflegefamilie zur nächsten gereicht. Und dann schien sie endlich glücklich, endlich gerettet, lebte in einer kleinen Wohnung in einer Einrichtung, die sich um Teenager wie sie kümmerten, hatte einen Job in einem Supermarkt, verteilte Proben und Müsterchen an die Kundschaft, hatte einen Freund.
Bis eines Nachts im Jahr 2008 ein Unbekannter in ihre Wohnung in Lynwood, Washington, einbricht, sie fesselt, mehrfach vergewaltigt, wieder verschwindet ohne Spuren zu hinterlassen, selbst die Bettwäsche, in der sie vergewaltigt wurde, nimmt er mit. Ihre Augen waren verbunden, aber sie erinnert sich klar an den Blitz einer Kamera. Und daran, dass er ein Kondom überzog.
Detective Robert Parker findet nichts. Und zwei ehemalige Pflegemütter von Marie melden ebenfalls Zweifel an der Verlässlichkeit ihrer Geschichte an. Vermutet wird ein Aufmerksamkeitsdefizit. Die Polizei redet Marie so lange ein, die Vergewaltigung erfunden zu haben, bis sie dies zermürbt zugibt. Sie wird zu einer Busse von 500 Dollar verurteilt. Sie verliert alle Freunde und ihren Job. Dabei sagte sie nichts als die Wahrheit.
Drei Jahre später in Golden, Colorado. Detective Karen Duvall (Merritt Wever) wird zu einem Fall gerufen, eine junge Frau wurde vergewaltigt, stundenlang, natürlich sehen wir als Zuschauende die Parallelen sofort, aber bis die Polizei sie sieht, wird es noch eine Weile dauern. Denn wieso sollte ein Polizeiposten in Colorado wissen, welche Fälle ein anderer in Washington Jahre zuvor bearbeitet hat?
Detective Duvall arbeitet anders als Parker, sie hört zu. Macht sich ein Bild aus tausend Mosaiksteinchen. Sammelt. Bleibt ruhig. Ist einfühlsam. So sehr, dass sie zum Gespräch solidarisch eine Blümchenbluse anzieht, wie sie das Opfer selbst am liebsten trägt. Duvall ist eine sehr gläubige Christin. Ist barmherzig. Aber unter einer Oberfläche äusserster Sanftheit unbarmherzig tough. Sie glaubt ihrem Opfer und bietet alle Kräfte zur Verfolgung des Vergewaltigers auf. Und: Sie vernetzt sich. Erfährt von einem anderen Fall in einem anderen Ort, der von Detective Grace Rasmussen (Toni Collette) betreut wird, einer Frau, die in ihrer Freizeit am liebsten an Autos herumschraubt.
Die beiden machen sich auf die zermürbende Suche nach einem Serien-Vergewaltiger. Sie sind dabei – welche Erholung – ein Ermittlerinnen-Duo, das nach Generationen gebrochener, süchtiger, autistischer, depressiver oder sonstwie versehrter Kommissare und Kommissarinnen endlich mal einfach wieder seinen Job macht und dies nach allen Regeln der Kunst. Bei denen der Mikrokosmos der Investigation und nicht die eigene Introspektion im Vordergrund steht. Deren Partner nicht selbst in Verbrechen involviert sind. Quasi zwei ganz normale Profis. Man ist sich das gar nicht mehr gewohnt.
Die True-Crime-Serie «Unbelievable» erzählt eine wahre Geschichte. Erzählt sie – mit Ausnahme von geänderten Namen – nicht gross fiktionalisiert oder nachempfunden, sondern exakt in allen schockierenden Details, die darüber bekannt sind (und es sind viel zu viele). Erzählt sie aber auch, ohne voyeuristisch zu sein oder zu skandalisieren. Beobachtet. Sammelt. Macht viele Bilder, nicht bloss eins, fügt zusammen. So wie Duvall und Rasmussen das machen würden. Ist grandios uneitel. So wie Duvall und Rasmussen.
Nichts an diesem sorgfältig gemachten Sechsteiler ist voyeuristisch oder skandalisierend, er ist hochgradig spannend, enorm frustrierend und er macht so traurig, wie man schon lang nicht mehr war. Über die Perversität des Verbrechens. Über die Ungerechtigkeit des Rechtssystems, das Marie Adlers Tortur des Übergriffs in unnötig vielen Verhören brutal multipliziert und über drei Jahre ihres Lebens hinaus zerdehnt. Dass es Rasmussen und Duvall – im echten Leben heissen sie Edna Hendershot und Stacy Galbraith – nach einigen ermittlerischen Sackgassen tatsächlich gelingt, ihre Fälle und den von Marie Adler zu lösen, bietet eine dringend nötige Katharsis.
Der Täter gesteht schliesslich, Dutzende von Frauen vergewaltigt zu haben, und wird zur Höchststrafe von 327,5 Jahren Haft in Colorado und weiteren 68,5 Jahren in Washington verurteilt. In der Serie heisst er Chris McCarthy, im richtigen Leben Marc O'Leary, heute ist er 41 Jahre alt.
Das Drehbuch von «Unbelievable» stützt sich auf den Artikel «An Unbelievable Story of Rape» von Ken Armstrong und T. Christian Miller, den die beiden Non-Profit-Nachrichtenorganisationen The Marshall Project und ProPublica ermöglicht hatten und für den die Autoren 2016 einen Pulitzer Preis gewannen. Armstrong und Miller geben vor, wofür sich auch die Serie dramaturgisch entschieden hat: die Lupe auf Maries Einzelschicksal auf der einen und die erweiterte Perspektive auf die Ermittlung der beiden Frauen auf der anderen Seite.
Aber halt, kommt uns dieses Arrangement nicht seltsam bekannt vor? Die wahre Geschichte einer Frau, die gegen ein ungerechtes System kämpft und es besiegt? Was wiederum zu einem unglaublich erfolgreichen und ziemlich guten Film wurde? Für den die Hauptdarstellerin einen Oscar gewann? Na?
Der Film, den ich meine, hiess damals «Erin Brockovich», die Oscargewinnerin Julia Roberts. Und auch die Drehbuchautorin war für einen Oscar nominiert. Sie hiess Susannah Grant. Und genau die hat jetzt «Unbelievable» erfunden, geschrieben, produziert und bei zwei Folgen auch noch Regie geführt. Respekt. Hoffentlich macht sie sowas bald mal wieder.
Aber die Serie ist ja schon sicher ein Jahr alt. Wieso wird sie denn erst jetzt hier promotet?
Aber unbedingt sehen. Aber Achtung, es ist keine leichte Kost