Sie ist mehrfache Schweizer Meisterin, nahm an Weltmeisterschaften und anderen internationalen Grossanlässen teil: Jahrelang zeichnete die Bernerin Maria Piffaretti Kunstfiguren ins Wasser, war eine der besten Synchronschwimmerinnen des Landes. Im März 2019 stand fest, dass sie die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Japan verpassen würde. Piffaretti, damals 21-jährig, trat zurück. Das Schwimmbecken war seit früher Kindheit ihr zweites Zuhause.
Ab 12 Jahren trainierte sie wöchentlich 20 bis 25 Stunden lang. Mit 15 Jahren pendelte sie viermal wöchentlich zu den Übungseinheiten nach Genf, während sie in Bern das Sportgymnasium bestritt. Piffarettis Tage? Durchgetaktet von morgens früh bis abends spät. Ihre Schulnoten? Gut, trotz wenig Zeit zum Lernen. Ihr Ehrgeiz? Gross. Das Leben neben Sport und Schule? Praktisch inexistent. «Gewöhnliche Dinge wie ausgehen oder Geburtstage feiern hatten keinen Platz», erinnert sich Piffaretti. Sie lebte in einer Blase.
Anfänglich fand sie sich nach ihrem Rücktritt gut zurecht im «zivilen» Leben. Bei den SBB absolvierte sie ein Praktikum. Die Probleme tauchten später auf. Wie aus dem Nichts bracht Piffaretti plötzlich fast wöchentlich in Tränen aus. Anfang dieses Jahres, als Piffaretti für die Prüfungen ihres im letzten Herbst an der Hochschule Luzern begonnenen Betriebswirtschaftsstudiums lernte, verschärfte sich die Lage.
Während Jahren rief sie in Stresssituationen, bei Wettkämpfen, ihr Können ab. Aber dann, etwa zwei Wochen vor den Prüfungen, die totale Blockade: Schlafstörungen, kein Hunger, Gewichtsverlust. Die Fachbücher, die hätten gelesen sollen, blieben zugeklappt.
Viele Spitzensportler fallen in ein mentales Loch, wenn plötzlich fast das ganze gewohnte Leben wegbricht. Kunstturnerin Ariella Kaeslin berichtete öffentlich über ihre Erschöpfungsdepression. Piffaretti wusste Bescheid, dass der Übergang vom Sportlerinnen- ins Alltagsleben Tücken birgt. Doch als sie der Hammer traf, war sie ratlos. «Was ist los mit mir?», fragte sie sich. Sie konnte manchmal nichts mehr essen. Eine Schwimm-Weggefährtin landete wegen Magersucht im Spital. Piffaretti bekam Angst. Sie, aber auch Eltern und Freunde realisierten: Es stimmt etwas nicht mehr.
Bei einem Psychologen fand Piffaretti, die bald ihren 23. Geburtstag feiert, Hilfe. Sie blockierte sich selber, weil sie einige Verhaltensmuster als Spitzensportlerin wie eine Folie auf ihr Studentinnenleben legte: das Streben nach Perfektion. Nur ein Topresulat ist gut genug. Dazu gesellte sich die Angst, dass der Sportlerkörper langsam verloren geht, sich ein Teil ihrer Identität buchstäblich langsam verflüchtigt.
Piffaretti spricht von einem strukturellen Problem. Es fehle in der Schweiz eine geeignete Betreuung und Beratung für die Zeit nach dem Karrierenende. «Ich war jahrelang in ein Korsett gezwängt. Dann wurde ich quasi ohne Bewährungshilfe in die Freiheit entlassen.» Piffaretti wagt den Schritt an die Öffentlichkeit, weil sie etwas verändern will, weil anderen Athleten nicht das gleiche Schicksal widerfahren soll. Sie verlangt, dass Spitzensportler besser und systematisch unterstützt werden, um nach der Karriere im Alltag besser Fuss zu fassen zu können, auch mit psychologische Hilfe.
Nationalrätin Greta Gysin (Grüne, TI) trägt das Anliegen ins Bundeshaus. Sie fordert in einem kürzlich eingereichten Vorstoss, dass der Bundesrat Strukturen schafft zu Gunsten von Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern, die am Ende ihrer Karriere unter körperlichen oder psychischen Problemen leiden. Der Schritt in ein «neues» Leben bedeute eine riesige Umstellung, und viele Betroffene würden den Grund für ihre Probleme gar nicht erkennen. Gysin schwebt vor, dass die Sportler bereits während ihrer Aktivzeit auf das Danach vorbereitet werden.
Der Dachverband Swiss Olympic unterstützt Athleten schon jetzt bei der Planung von Sport und Berufskarriere. Er bietet auch individuelle Laufbahnberatung an und verweist auf Sportpsychologen. Für Greta Gysin muss sich aber auch der Bund noch stärker engagieren, um Leid von betroffenen Athleten und Athletinnen zu mindern.
Piffaretti hat trotz Lernblockade fünf von sieben Prüfungen bestanden. Ihr Studium wird sie in leicht abgespeckter Form an der höheren Fachhochschule Olten fortsetzen. Dank externer Hilfe, Unterstützung von Familie und Freunden befindet sich Piffaretti, sportlich immer noch sehr aktiv, «auf gutem Weg» aus dem Tunnel.
Aber warum sollen denn die bestehenden Strukturen nicht ausreichen? Wer aus dem Spitzensport aussteigt und merkt, dass es nicht geht, kann zum Arzt gehen. Das Problem ist ja bekannt. Warum der Staat hier ein Spezialprogramm finanzieren soll, verstehe ich wirklich nicht.
Das heisst quasi, dass im Spitzensport junge Menschen jahrelang zu Personen geformt werden, die im Alltag nicht alleine zurechtkommen.
Frau Piffaretti wünsche ich alles Gute, sie packt das bestimmt.
Der Staat hat Sie ja nicht gezwungen in den Spitzensport einzusteigen, es war Ihr eigener Wunsch und Antrieb.
Was soll der Staat den noch alles finanzieren?