Die Kinder von Eva* und Marco* wissen, dass ihre Eltern andere Männer und Frauen lieben. «Mami hat noch andere Schätzeli», sage ihre 13-jährige Tochter jeweils. Eva, knapp 40 Jahre alt, sitzt in eine dicke Strickjacke gewickelt vor einem Café in Zürich. Sie ist keine Frau, die man leicht übersieht. Bunte Tattoos zieren ihren Ausschnitt, Hals und Hände. Von Konventionen hat sie noch nie viel gehalten, auch nicht in der Liebe.
Seit acht Jahren lebt sie mit ihrem Mann Marco polyamor. Sie treffen sich mit anderen Männern und Frauen, sie schlafen manchmal mit ihnen, sie verreisen mit ihnen, sie nehmen ihre Liebschaften auch mal mit nach Hause. «Einfach weil es praktischer ist, jemand muss ja zu den Kindern schauen.» Sie sind zwischen acht und dreizehn Jahre alt.
Eva und Marco öffneten ihre Beziehung vor rund neun Jahren. Ihr drittes Kind war kurz zuvor zur Welt gekommen, als sie über verschiedene Formen von Beziehung zu diskutieren begannen. «Nicht weil ich unzufrieden war, schon gar nicht sexuell, ich war im Gegenteil extrem beschäftigt zu dieser Zeit mit Job und Kindern», sagt Eva. Es sei mehr eine theoretische Diskussion gewesen.
Evas Mann war zuerst irritiert und verletzt. «Wie soll er auch reagieren, wenn seine Frau ihm eröffnet, dass sie gern mit anderen Männern schlafen würde?», sagt Eva und lacht. Sie habe das Thema dann nicht mehr angeschnitten.
Doch irgendwann stand Marco mit einem säuberlich ausgearbeiteten Regelwerk vor Eva. Punkt für Punkt hatte er aufgelistet, was in ihrer – vorerst – offenen Beziehung erlaubt und was verboten sein sollte: keine Übernachtungen, keine Geschenke, keine gemeinsamen Ferien, keine Gefühle. Beim letzten Punkt musste Eva insistieren.
Gerade durch die Kinder habe sie erfahren, dass die Liebe nicht kleiner werde, wenn man sie auf mehrere Personen verteile. Eva und Marco pflegten in der Folge diverse Aussenbeziehungen – von kurzen Sexbeziehungen bis zu längeren Partnerschaften. Er bevorzugte sexuelle Abenteuer, sie baute mit einigen Männern etwas auf.
Dabei lösten die beiden Dramen aus, standen Liebeskummer und Trennungsschmerz durch. Marco hatte nach vier Jahren genug. «Er sah unsere offene Beziehung als Versuch, den wir nun beenden sollten.» Doch Eva wollte nicht mehr zurück. Für die 40-Jährige ist Polyamorie die einzige logische Lebens- und Liebesform. «Alles andere fühlt sich nach faulem Kompromiss an.»
Auch Lena* hat polyamor gelebt. Etwa 15 Jahre lang – zuerst ohne Kinder, anschliessend mit Familie. Einst dachte sie wie Eva und identifizierte sich völlig mit dieser Lebensform. Heute sieht sie dies differenzierter.
Das könne dazu führen, dass nicht immer die Grenzen aller Beteiligten respektiert, sondern einfach die eigenen Bedürfnisse durchgesetzt würden. «Ein sorgfältiger Umgang miteinander und eine klare Definition, was man mit Polyamorie genau meint, ist zentral, sonst entsteht statt Liebe rasch Leid», sagt Lena.
Sandro* führte einige Jahre lang eine Beziehung mit einer Partnerin, die polyamor liebte. Er selber war ihr treu; er sei nicht der Typ, der Frauen aufreisse und abschleppe. Und Frauen, die ihn interessierten, lehnten es ab, Teil einer polyamoren Konstellation zu sein. Wenn er abends alleine zu Hause sass und wusste, seine Partnerin trifft sich mit ihrer Zweitbeziehung, habe er manchmal mit Eifersucht gekämpft.
«Ich ertappte mich beim Gedanken, jetzt sofort rauszugehen und mit einer anderen Frau etwas anzufangen. Gleichzeitig bemitleidete ich mich», sagt er. Dennoch habe er an der Beziehungsform nichts ändern wollen:
Diese Liebesbeziehung lebte er in seinen 20ern. Inzwischen ist Sandro über 30 Jahre alt und führt mit seiner neuen Partnerin eine monogame Beziehung. Eine andere Form könne er sich aktuell nicht vorstellen. Auch weil Kinder inzwischen ein Thema seien, sagt Sandro.
Genau umgekehrt entschieden sich Eva und Marco, die ihre Beziehung erst öffneten, als sie Eltern waren. Und die Kinder? Die stellen natürlich Fragen, sagt Eva. Die wollen wissen, wohin Mama abends geht, wo Papa übernachtet. In den ersten Jahren, als die Kinder noch kleiner waren, hätten sie es vermieden, dass diese etwas von den wechselnden Partner mitbekommen. Aber allzu lange sei das nicht durchzuhalten gewesen. Schnell seien Fragen gekommen wie «Hast du den Mann gern? Und liebst du Papa jetzt nicht mehr?».
Ihre Kinder anzulügen, sei keine Option gewesen, sagt Eva. Zudem habe sie ihnen den Bären von der einen grossen romantischen Liebe sowieso nie aufbinden wollen.» Für dieses Märchen sind Disney und Hollywood zuständig – und damit bei meinen Kindern zugegebenermassen sehr erfolgreich.»
Aber ihre Kinder wüssten auch, dass man mehrere Personen gleichzeitig lieben könne. Wird eine Aussenbeziehung ernster und längerfristiger, lernen die Kinder die neuen Partner von Eva und Marco kennen. Ohne grosses Tamtam und ohne offizielle Vorstellungsrunde, sondern einfach an der Haustüre.
Also kommen die Kinder zum Brunch mit der neuen Flamme halt auch mal mit. Ob und wie ihr Nachwuchs in der Schule und der Nachbarschaft über die verschiedenen «Schätzelis» der Eltern erzähle, wisse sie nicht, sagt Eva.
Lena und ihr Mann verheimlichten ihre Ansichten zur Liebe nicht vor den Kindern. Altersgerecht haben sie es ihnen erklärt, sagt Lena. «Dabei darf nicht vergessen werden, dass Kinder nicht genau Bescheid über das Sexleben ihrer Eltern wissen wollen.» Gegen aussen entsprachen sie einem heteronormativen Familiensetting.
Die weiteren Liebesbeziehungen hätte sie diskret geführt, sagte Lena. Ihr fiel auf, wie stark sich ihre Kinder an der Konformität orientierten. «Ich habe unterschätzt, wie prägend das gesellschaftliche Umfeld auf sie wirkt und weniger, was wir ihnen als Eltern transportierten.» Als ihre Tochter in die Pubertät kam, verschärfte sich dies.
«Sie hatte grosse Mühe mit der Vorstellung, dass ich zwei Liebesbeziehungen hatte. Bei meiner Tochter kamen klischierte Bilder hoch, gegen die ich mit meinen Erklärungen nicht ankam», sagt Lena. Erst als ihre Tochter Jahre später selber eigene Erfahrungen sammelte, habe sie nicht mehr ablehnend auf das Thema offene Beziehungen reagiert.
Polyamorie polarisiert – gerade, wenn Kinder im Spiel sind. In ihrem Standardwerk «The Ethical Slut» beschreiben die beiden Autorinnen Dossie Easton und Janet W. Hardy, dass ihre eigenen Kinder sehr selbstverständlich mit ihren Mehrfachbeziehungen aufgewachsen seien. «Das Netz unserer Beziehungen spannte sich zu einer gewaltigen Grossfamilie, die mehr als genug Energie besass, um alle Kinder willkommen zu heissen», schreiben sie.
Die Autorinnen wissen aber auch, dass es für Kinder schwierig sein kann, mit negativen Reaktionen aus dem Umfeld umzugehen. «Es ist wichtig, Kindern zu sagen, dass andere Menschen dazu andere Ansichten haben und man bestimmte Dinge besser nicht überall äussern sollte.»
In ihrem Umfeld kennen Eva und Marco kein anderes Paar mit Kindern, dass eine polyamore Beziehung lebt. Obwohl sie in einem urbanen Umfeld zu Hause sind, seien ihre Freunde mit ihrer Liebesform mehrheitlich überfordert. «Unser Modell stellt ihre eigene Beziehung zu sehr infrage», sagt Eva. Familie und Freunde würden es akzeptieren, aber darüber reden wollten die Wenigsten. Dabei sei für sie und Marco klar:
Dies würden sie neuen Bekanntschaften klar kommunizieren. Mit unterschiedlichem Erfolg. Viele der Aussenbeziehungen endeten damit, dass die Partner nicht mit der Situation umgehen konnten. «Am Anfang fanden sie es cool, aber irgendwann ist es ihnen doch zu wenig», sagt Eva.
Auch darum wollen sich Marco und sie zur Zeit nicht mehr auf neue Partner einlassen. «Wir leben fast monogam», sagt Eva. Ob sich das wieder ändert, wisse sie nicht. «Wir suchen nicht aktiv nach Partnern, das muss sich ergeben.»
Die offene Beziehung habe die Verbindung zu ihrem Mann gestärkt. Sie sei stolz darauf, wie sie das hinbekommen hätten. «Wir wissen jetzt, dass wir uns nicht bei der ersten Verliebtheit verlassen oder weil wir mit jemand anderem den besseren Sex haben.»
*Namen geändert
(aargauerzeitung.ch)
Als jemand, der eher klassisch monogam eingestellt ist, bekommt man Selbstzweifel.