Alle stimmen zu: Ein gelungenes Leben geführt zu haben, ist des Menschen höchstes Ziel. Wer dem widerspricht, hat sie nicht mehr alle. Der ist ein Miesmacher, ein desillusionierter Idiot, ein Pessimist! Doch die eigentliche Spielverderberin in diesem Gebet ist das Leben selbst. Denn das Misslingen ist eine Lebensrealität; wer sie zum Schlechten stigmatisiert, steuert sein Leben der Hölle entgegen. Diese Meinung vertritt der deutsche Philosoph Prof. Dr. Wilhelm Schmid, der sich mit der Kunst des Lebens auseinandersetzt.
Misslingen begleitet stets unsere Karrieren, egal ob beruflich oder privat. Es gibt in fast jedem Leben eine Beziehung, die man hätte eingehen wollen, die man gerne ewig währen gesehen hätte. Und wenn nicht, dann gab es einen Job, einen Traumjob, den man gerne ausgeführt hätte, oder die perfekte Stelle, die man gehabt hatte, aber blöderweise wieder verlor. Das Leben kann eine Enttäuschung sein. Doch das darf es nicht. Das wollen wir nicht wahrhaben, das misslungene Leben.
Philosoph Schmid glaubt, dass wir zu einem modernen Zeitalter des «Nur-Positiv-Denkens» verkommen sind. Das habe mit der Verweltlichung einer einst religiösen Welt zu tun. Im Zuge der Säkularisierung haben die Menschen den paradiesischen Zustand, der ihnen für das Jenseits versprochen wurde, selbst in die Hand genommen und das permanente Glücklichsein ins Diesseits gehievt. Das Resultat: Jazzsongs wie «Don’t Worry, Be Happy» von Bobby McFerrin brennen sich ins kollektive Bewusstsein mehrerer Generationen ein.
Einfach Glücklichsein mag im Jenseits bei den Engeln funktionieren, zumal das ja nie jemand überprüfen kann. Doch im Diesseits unter Menschen gilt nicht notwendigerweise der Lebensstil von flatternden Himmelswesen. Im Gegenteil. Wie gesagt, das Leben ist hart, Misserfolge unumgänglich. Wer diesem Faktum jedoch kein Gehör schenkt, bildet sich ein, alles müsste schon von vornherein schön und korrekt sein: Der Partner, die Kindererziehung, die Wohnsituation, das freundschaftliche Verhältnis zum Chef. Alles, was nicht im fröhlichen Kanon des Erfolgs mitsingt – die stagnierende Karriere, die kaputte Ehe, das hässliche Sofa, der langweilige Job –, das ist alles halb so wild, wird schon gut kommen, muss gut kommen. Positiv denken ist eben die Devise.
Laut Schmid laugt es die Menschen jedoch vielmehr aus, wenn mit aller Macht auf einer positiven Sichtweise beharrt wird. «Und das führt», so Schmid in einem Podcast des «Südwestrundfunks», «nicht etwa dazu, von dieser Ideologie abzulassen, sondern dazu, noch wütender positiv zu denken. Denn da muss man etwas im eigenen Selbst niederkämpfen und da gibt es erfahrungsgemäss nie nur positive Seiten zu entdecken.»
Positives Denken kann schön und motivierend sein, aber nach der philosophischen Theorie von Wilhelm Schmid ist es kein Lernsystem. Die Sensibilität für Probleme und für berechtigte Kritik geht in der Schönmalerei unter. Und abgesehen davon macht es uns anfällig für schmerzliche Erfahrungen: Je höher nämlich die positive Erwartung, desto tiefer der Absturz schon bei der kleinsten Negativität. «Wenn nur noch das Gelingen zählt, wird jedes Misslingen zur schlimmen Störung», so Schmid.
Der Anti-Freund des immer himmelhoch jauchzenden Positivisten ist der allseits unbeliebte Pessimist. Doch jüngste psychologische Studien sind bemüht, das Image der Stirnfaltenträger zu renovieren: Während chronische Optimisten nämlich das präventive Grübeln nicht beherrschen und sich mit ihrem Übermut eher noch in Gefahr bringen, würden es die Pessimisten lockerer und vor allem bedachter angehen. Denn begleitet von Sorgen – was die Psychologen in der genannten Studie als «unangenehmes Gefühl gegenüber der Zukunft» definieren – werden sie aktiv und sind motiviert, das Schlimmste der nahen Zukunft zu vermeiden. Nicht zuletzt fühlt sich ihr Erfolg auch besser an, weil die Differenz zur erwarteten Beglückung grösser ausfällt.
Misserfolg macht die meisten Menschen, ob Pessi- oder Optimist ist dabei egal, im Normalfall trotzdem traurig und verunsichert. Das Misslingen zieht in der Regel runter. Da helfen auch keine volksmündlichen Sprüche wie «An Niederlagen wächst man!» oder «Verlieren schult den Charakter!» weiter. «Einfach positiv denken!» – da ist es schon wieder.
Zur Aufmunterung eignet sich schliesslich wohl doch wieder ein wissenschaftlicher Zugang. Genauer: ein evolutionsbiologischer und kultureller. Ein Kleinkind muss tausend Mal hinfallen, bis es gehen kann, um dann endlich ein Erfolgserlebnis geniessen zu können. Und so ein Erfolgserlebnis entzückt auch ein Erwachsenenleben enorm. Aber nur, wenn dahinter eine Challenge steckt. Nur, wenn der Erfolg neu ist und nicht die selbe Aufgabe zum zigsten Mal siegreich vollendet wird.
Philosoph Schmid sagt, dass das Misslingen eine wertvolle Gelegenheit sei, die neue Perspektiven erschliessen kann und die uns letztlich sogar zwingt, auf andere Weise an eine Sache heranzugehen. Das gehe so weit, dass dem Misserfolg eigentlich aller menschliche Fortschritt zu verdanken sei. Denn mit dem eigenen Misslingen hilft man den anderen. Abschauen, analysieren, einschätzen, heissen diese Prinzipien.
Evolutionsbiologisch macht es also Sinn zu scheitern, denn wenn es auch selber Unglück produziert, hilft es der Art und ihrer Entwicklung. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp geht gar so weit, dass er das Scheitern als eine Erfindung der Leistungsgesellschaft darstellt. Gewinner und Verlierer gibt es laut ihm nur wegen der überhöhten Erwartungen und dem Druck der vorherrschenden Gesellschaftsordnung.
Will heissen: Wenn du nicht zu viel von dir selbst erwartest, solltest du dich nach der nächsten misslungenen Dessert-Kreation, einer gescheiterten Liebesbeziehung oder dem unverhofften Kündigungsschreiben auch nicht wie das grösste Opfer der Welt fühlen.
Und dann? Weitermachen. Wozu? Damit wieder etwas Neues gelingt. Etwas anderes bleibt schliesslich nicht übrig.