Stell dir vor, es ist 1. August, und keiner geht hin. In diesem Corona-Sommer ist dies kein sozialistischer Wunschtraum, sondern Realität. In vielen Gemeinden ist die Bundesfeier gecancelt, oder sie findet nur in kleinem Rahmen statt. Das trifft auch Politikerinnen und Politiker, die kaum Gelegenheit erhalten, das Volk mit patriotischen Reden zu beglücken.
Selbst Christoph Blocher, der in der Regel an mehreren Orten spricht, muss aussitzen. Er hätte laut «Tages-Anzeiger» einige Auftritte gehabt, die alle abgesagt wurden. «Derzeit keine Veranstaltungen», steht auf seiner Website. Während in seiner Wohngemeinde Herrliberg ausgerechnet die scharfzüngige SP-Nationalrätin Jacqueline Badran sprechen darf.
Das ist bitter für den knapp 80-jährigen SVP-Patriarchen. Und symptomatisch für ihn und seine Partei. In ihren besten Zeiten sorgten Blocher und die SVP in der Schweizer Politik für Angst und Schrecken. Sie provozierten, empörten und bezogen daraus die Energie für ihren scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg an die Spitze des Parteienspektrums.
Und heute? Hat man fast Mitleid mit der SVP. Ihre Suche nach einem Parteipräsidenten erinnerte an absurdes Theater. Dabei stellten sich mit den Nationalräten Andreas Glarner und Alfred Heer zwei Bewerber zur Verfügung. Andere Parteien mussten in den letzten Jahren froh sein, wenn sie überhaupt jemanden für das aufreibende Amt fanden.
Die beiden Kandidaten aber waren in der Zentrale – also in Herrliberg – dermassen unerwünscht, dass die Findungskommission unter der Leitung des früheren Fraktionschefs Caspar Baader ebenso verbissen wie lange vergeblich nach einer Alternative suchte. Und bei einem fündig wurde, den kaum jemand auf der Rechnung hatte: dem Tessiner Ständerat Marco Chiesa.
Er sei «von Anfang an einer der Wunschkandidaten» gewesen, teilte die SVP mit. Chiesa aber wirkt eher wie eine Verlegenheitslösung, nachdem alle «Schwergewichte» abgesagt hatten. Mit bestenfalls passablen Deutschkenntnissen soll der ausserhalb seines Heimatkantons kaum bekannte Tessiner eine immer noch sehr deutschschweizlastige Partei führen?
Es gehe auch darum, «die SVP in der Romandie zu stärken», schreibt die Partei. Dabei haben die beiden «lateinischen» Landesteile wenig gemeinsam, allenfalls eine Hassliebe zur übermächtigen Deutschschweiz, um deren Gunst sie rivalisieren. Zuletzt etwa 2017 bei der Nachfolgeregelung für FDP-Bundesrat Didier Burkhalter, als der Tessiner Anspruch in der Westschweiz auf – gelinde gesagt – wenig Verständnis stiess.
Der seltsame Entscheid für Chiesa verdeutlicht, dass Albert Rösti die SVP mit seinem Rücktritt auf dem falschen Fuss erwischt hat. Seine Beweggründe sind nebulös, sie haben offenbar mit Christoph Blochers Manöverkritik nach der Niederlage bei den nationalen Wahlen zu tun. Eine strategische Nachfolgeplanung war so nicht möglich.
SVP-Präsident sei «einer der schönsten Jobs, die es in der Schweizer Politik gibt», sagte Rösti im Interview mit der NZZ. Zum Nennwert nehmen darf man das nicht. Hier redet einer das Amt stark. Tatsächlich hat der Berner in den letzten Monaten deutlich erkennen lassen, dass er die für ihn zur Bürde gewordene Würde nur noch loswerden will.
Seit den verlorenen Wahlen ist innerhalb der SVP ein Richtungsstreit ausgebrochen. Die «Modernisierer» wollen sie aus dem «Ghetto» der harten Ausländer-, isolationistischen Aussen- und neoliberalen Wirtschaftspolitik herausführen und thematisch breiter aufstellen. So verlangen viele Bauern, dass die Partei den Klimawandel nicht länger leugnet, sondern als ernste Bedrohung wahrnimmt.
Auf der anderen Seite stehen jene «Nostalgiker», die das Heil der SVP in einer Rückkehr zur einstigen Krawallpolitik sehen. In seiner Aargauer Kantonalpartei hat Andreas Glarner damit das Präsidium erobert. «Back to the Roots» als Erfolgsrezept für die SVP? Das könnte ins Auge gehen. Denn die ohnehin überalterte Partei sieht sich mit massiven Strukturproblemen konfrontiert.
Dafür steht etwa die jüngste Entgleisung von Scharfmacher Glarner, als er Aldi-Lehrlinge an den Facebook-Pranger stellte. Ihr einziges «Vergehen» besteht darin, dass sie nicht Hugentobler oder Hürlimann heissen, sondern Namen tragen, die man mit Sicherheit nicht auf der Teilnehmerliste der Schlacht am Morgarten finden konnte.
Damit bedient Andreas Glarner die Befindlichkeit jener Patrioten, die sich zunehmend «fremd im eigenen Land» fühlen und im Auto ein Schild mit der Aufschrift «Eidgenosse» oder «Eidgenossin» platzieren, um sich von den «Papierlischwizern» abzugrenzen. Von denen aber gibt es immer mehr. Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund.
Wie die US-Republikaner, von denen sie einiges abgekupfert hat, droht die SVP vom demografischen Wandel überrollt zu werden. Die Partei ist sich des Problems bewusst, und immer mal wieder fanden Secondos den Weg zu ihr, nur um festzustellen, dass sie nicht willkommen waren, weniger auf Funktionärsebene als bei den senkrechten «Eidgenossen» an der Basis.
Fast noch gravierender für die Partei ist ein anderer Trend. Alles spricht dafür, dass Umwelt- und Genderthemen nicht nur eine «Modeerscheinung» sind, wie Christoph Blocher meint, sondern Ausdruck einer Gesellschaft im Wandel. Dazu gehört auch die Abkehr vom «klassischen» Familienmodell, das in der SVP bis heute idealisiert wird.
Dabei ist die jüngere SVP-Generation in der Gegenwart angekommen. «Wunschkandidat» Marcel Dettling, Martina Bircher, Christian Imark, «Geheimfavorit» Lars Guggisberg – sie alle haben für das Präsidium mit Verweis auf die Familie abgesagt. Sie wollen sich lieber um ihre Kinder kümmern, als die Abende nach dem Motto «SVP bi de Lüt» zu verbringen.
Besonders deutlich zeigt sich diese Mentalität bei Neo-Nationalrätin Martina Bircher. In der «Aargauer Zeitung» hat sie sich für den zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub ausgesprochen. Sie teilt sich mit ihrem Partner die Betreuung des zweijährigen Sohnes und gibt ihn auch in die Kita – eine Einrichtung, die manche SVPler mit Sodom und Gomorrah gleichsetzen.
Die jungen SVP-Frauen sind nicht mehr bereit, sich mit der Silvia-Blocher-Ehrennadel für vorbildliche Mutterschaft zu begnügen. Und die Männer wollen das Familienleben nicht für Beruf und Politik aufopfern, wie es der «Auftrag» im «Blocher-Prinzip» vorsieht. Eine gute Work-Life-Balance ist für sie keine linke Schnapsidee, sondern selbstverständlich.
Für den «Übervater» ist dies eine Herausforderung. Christoph Blocher müsste sich und die Partei auf seine alten Tage neu erfinden, die gewandelte Anspruchshaltung in konstruktive Politik umwandeln. Anzeichen dafür sind nicht vorhanden, im Gegenteil. Blocher versteht die Welt nicht mehr. Bei seinen öffentlichen Auftritten schlägt er immer düsterere, ja dystopische Töne an.
Vor der Zürcher Kantonalpartei, die er jahrzehntelang präsidierte, raunte er kürzlich über einen «Bürgerkrieg» gegen «eine Art marode Gesellschaft im Innern». Im «Tages-Anzeiger» versuchte er, diesen Begriff in seiner bekannten Art zu verwedeln: Mit maroder Gesellschaft meine er «das Parlament, die Wirtschaftsverbände, die Regierung, die Massenmedien».
Vielleicht glaubt er das ja selbst. Aber Blocher meint die Gesellschaft an sich. «Früher stellte er das gute Volk gegen die verdorbene Elite. Nun erscheint bei ihm die Gesellschaft als Ganzes verdorben», meint ein Kenner der Schweizer Politik. Mit dem Entscheid, seine Bundesratsrente rückwirkend einzufordern, wolle er die Schweiz bestrafen.
Es ist eine gewagte These, doch Blocher hadert offensichtlich damit, dass die Schweiz sich seiner «konservativen Revolution» verweigert. Gleichzeitig kann und will er nicht loslassen. «Die letzte Botschaft von Blocher kommt erst, wenn der Deckel zugeht beim Sarg», sagte sein langjähriger Vertrauter Toni Bortoluzzi der «NZZ am Sonntag».
Christoph Blocher erinnert zunehmend an einen einst höchst erfolgreichen Feldherren, der seine Truppen nur noch in die Irre führt und ein Scharmützel nach dem anderen verliert. Die «aufgeklärteren» Köpfe in der SVP haben dies realisiert, aber zum Sturz des Patriarchen fehlen die Kraft und der Mut. Denn Blocher bleibt das Idol der Basis.
Ausserdem hat der «König» seine Erbfolge geregelt, mit Tochter Magdalena Martullo und «Ziehsohn» Roger Köppel. Beiden fehlt das Format des Ausnahmepolitikers. Martullo hat den Einfluss und das Geld, aber weder das Charisma noch das Rednertalent des Seniors. Köppel ist in der aktiven Politik bis heute nicht wirklich angekommen.
Die SVP ist von einer disruptiven Kraft zu einer «normalen» rechtspopulistischen Stimmungspartei geworden, deren Erfolge abhängig sind von der Konjunktur ihrer Kernthemen. Die Herausforderung für den neuen Präsidenten Marco Chiesa – alles andere als eine klare Wahl am 22. August wäre eine Sensation – ist enorm.
Ein neuer Kopf aber ändert nichts am Grundproblem: Der Volkspartei kommt das Volk abhanden. Neue Ideen sind gefragt, sonst verliert die SVP vollends den Anschluss.
Im Grunde sehr tragisch.
Vieleicht etwas weniger poltern und stattdessen mehr sinnvolle, zukunftsorientierte Politik betreiben.
Gerade die Schweiz gab nie wirklich etwas auf die Herkunft, wir sind eine Willensnation und das war die alte Eidgenossenschaft auch schon.
Das sagt ja schon der Name, keine Nation qua Volk, eine Genossenschaft qua Eid, es ist egal wo du herkommst, wenn du dich den gemeinsamen Werten verpflichtest, DANN bist du Eidgenosse, egal wo du geboren bist und wer sich der Werte verweigert ist keiner, auch wenn er es vermeintlich an das Auto schreibt...