«Wie alt sind Sie?» Es ist eine simple Frage, die ihm die Migrationsbehörden im August 2018 stellten. Doch für das Leben von Hussain* ist sie folgenschwer.
Als der junge Afghane die Frage beantworten muss, ist er 15 Jahre alt. Er reiste allein in die Schweiz ein, wurde im Bundesasylzentrum in Basel untergebracht. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) befragte ihn zu seinen Fluchtgründen, seiner Identität und eben seinem Alter. Hussain gab sein Geburtsdatum an, beweisen konnte er es aber nicht: Seinen afghanischen Personalausweis – die Tazkera – liess er bei Schwester und Tante im Iran zurück. Ein Handyfoto davon reichte den Behörden nicht, es sei kein «fälschungssicheres Dokument».
«Wir werden Ihr Geburtsdatum auf den 01.01.2000 datieren», lautete der Beschluss im Gesprächsprotokoll, das dieser Zeitung vorliegt. Bis der junge Afghane ein offizielles Dokument vorlegen könne, gelte er für das Asylverfahren als volljährig.
Hussain ist Waise, seine Eltern verunfallten, als er acht oder neun Jahre alt war. Danach lebte er mit seiner Schwester bei einem Onkel. Dieser habe ihn wie einen Diener behandelt, sagt Hussain. Als der Onkel die jüngere Schwester mit einem Cousin verheiratet hatte, gingen die Geschwister zusammen in den Iran. Doch auch dort sah Hussain keine Zukunft für sich. «Wenn ich geblieben wäre, hätten sie mich nach Syrien geschickt.»
Als unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender hätte Hussain in der Schweiz Anspruch auf Hilfe gehabt. Eine Vertrauensperson, einen Beistand, Deutschkurse, Schulförderung, eine altersgerechte Unterkunft. Hussain wurde aber von Beginn weg als Erwachsener behandelt. Das führte dazu, dass er von Asylunterkunft zu Asylunterkunft geschoben wurde, mit erwachsenen Männern das Zimmer teilen musste und keine Schulbildung erhielt. Der junge Afghane entwickelte schwere psychische Probleme: Im Dezember 2018 versuchte er, sich mit einer Tablettenüberdosis das Leben zu nehmen. In der Klinik seien sich die Psychiater einig gewesen, dass Hussain als Jugendlicher behandelt werden sollte, sagt Hussains Anwalt Guido Ehrler. Im November 2019 zog er den Fall vor das Bundesverwaltungsgericht.
Ehrler wusste nicht, was zu erwarten war. «Die Praxis des Bundesverwaltungsgerichts ist uneinheitlich», sagt der Basler Anwalt. Je nach Richter oder Richterin würde ein anderes Urteil gefällt. Für Hussain fiel es positiv aus: Das Gericht urteilte, das SEM müsse beweisen, dass das im Zentralen Migrationsinformationssystem eingetragene Geburtsdatum wahrscheinlicher als die Angaben des Jugendlichen sei. Das Amt habe überdies die Begründungspflicht verletzt. Die Beschwerde wurde gutgeheissen, die Sache zur Neubeurteilung ans SEM zurückgewiesen.
Im Juni 2020 erhielt Hussain die erlösende Nachricht: «In Gesamtwürdigung der Aktenlage, mithin in Abwägung der Kriterien, die für und gegen die Minderjährigkeit Ihres Mandanten sprechen, sowie mit Blick auf die Prozessökonomie und die lange Verfahrensdauer, verzichtet das SEM auf die Durchführung eines Altersgutachtens und geht bei der weiteren Behandlung des Asylgesuchs ihres Mandanten von seinem gegenüber den Asylbehörden angegebenen Geburtsdatum aus.» Hussain ist nun offiziell minderjährig.
Der Fall von Hussain sei exemplarisch, sagt Ehrler. Er vertrat schon etliche Mandanten in ähnlichen Situationen. Einer seiner Fälle sei derzeit beim UN-Kinderrechtsausschuss hängig. «Natürlich gibt es Asylsuchende, die sich bei den Befragungen jünger machen, um einer Dublin-Abschiebung zu entgehen. Es gibt aber auch solche, die machen sich älter, weil sie befürchten, als Jugendliche nicht ernst genommen zu werden.» Gleichzeitig gebe es aber auch Fehlentscheide der Behörde, wie im Fall Hussain. Darum, sagt Ehrler, sollte ein Asylsuchender im Zweifelsfall als Minderjähriger behandelt werden. «Alles andere verletzt die Rechte dieses Menschen.»
Zwei Jahre hat Hussain verpasst. Seit Sommer 2019 besucht er das Brückenangebot Integration an der Kantonalen Schule für Berufsbildung im Kanton Aargau. Er ist Klassenbester. Der Unterricht unterfordert den heute 17-Jährigen oftmals. Sein Wunsch: «Ich möchte einen normalen Sekundarschulabschluss machen und Pflegefachmann werden.» Das Aargauer Bildungsdepartement will ihn aber nicht einschulen. Nach dem vollendeten 16. Lebensjahr sei ein Eintritt in die Volksschule nicht mehr möglich, darum gebe es die Brückenangebote, teilt das Bildungsdepartement auf Anfrage mit. Ehrler sagt: «Hussain ist sehr bildungsfähig und er wünscht sich nichts sehnlicher als einen Schulabschluss.» Seiner Ansicht nach müsste das SEM nun Wiedergutmachung leisten und dem Jugendlichen den Schulbesuch ermöglichen. Ehrler: «Ihm läuft die Zeit davon.»
*Name der Redaktion bekannt.