Das Coronavirus ist allgegenwärtig. Wie schützt sich der Bundesrat?
Walter Thurnherr: Die allgemeinen Hygienevorschriften gelten auch für den Bundesrat. Wir verzichten auf die Kaffeepause im Vorzimmer, wo wir sonst etwas eng um einen Tisch sitzen – Kaffee wird aber noch serviert. Wir haben die Pulte auseinandergeschoben. Wir unterbrechen die Sitzungen und lüften regelmässig. Und wir haben eine Audioanlage installiert für den Fall, dass sich jemand zuschalten muss.
Alain Berset musste einmal telefonisch zugeschaltet werden?
Genau. Als er auf Corona getestet wurde. Der Test war negativ.
Auch Viola Amherd und wohl Guy Parmelin liessen sich testen.
Es liessen sich mehrere Bundesräte testen. Mindestens vier.
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Mit Ausnahme von Berset nahmen sie aber trotzdem an den Sitzungen teil?
Ja, weil sie die Testergebnisse früh genug bekommen hatten. Wir hatten noch keinen positiven Fall.
Was würde dann passieren?
Wir müssten schnell abklären, wer mit dem betroffenen Bundesrat in Kontakt war, damit wir diese Leute sofort testen und isolieren könnten.
Vor kurzem ass der Gesamtbundesrat in einer Jugendherberge? Ist das nicht heikel?
Nein, wir sassen draussen, an einem sehr grossen Tisch. Da gab es mehr als genug Distanz zwischen uns.
Die Coronakrise dauert nun bereits ein halbes Jahr. Wie geht der Bundesrat damit um? Wie lange bleibt das Leben eingeschränkt?
Dass die Krise lange andauert, macht es natürlich schwieriger. Vieles wird davon abhängen, ob man einen Impfstoff findet, den man schnell und global einsetzen kann. Mit einem Impfstoff werden wir unter Umständen sehr schnell zum «normalen Leben» zurückkehren können. Findet man keinen, kann die Situation jahrelang mehr oder weniger so weitergehen. Die spanische Grippe dauerte zwei bis drei Jahre.
Auf dem Höhepunkt der Krise hatte der Bundesrat fünf Sitzungen in acht Tagen. Wie ungewöhnlich war das?
Das ist schon aussergewöhnlich, mindestens für die letzten vierzig Jahre. Vor 50 Jahren, als eine DC 8 der Swissair nach Jordanien entführt worden war, hielt der Bundesrat täglich Krisensitzungen ab. Aber das war etwas anderes. Blickt man weiter zurück, muss man etwas relativieren. Zwischen 1880 und 1925 gab es kein einziges Jahr ohne mindestens 100 Sitzungen. Es gab sogar Jahre mit über 190 Sitzungen. Heute sind es noch rund 40 Sitzungen pro Jahr. Und im Zweiten Weltkrieg, als die Situation wesentlich bedrohlicher war, traf sich der Bundesrat zuweilen morgens und abends.
Speziell ist die Komplexität der Krise.
Die Krise ist vor allem speziell, weil sie global ist, sie trifft alle Länder. Darüber hinaus ist es nicht nur eine globale Gesundheitskrise, sondern auch eine weltweite Wirtschaftskrise. Und sie trifft die Welt in einem Moment der Krise der internationalen Beziehungen und der Krise der internationalen Institutionen. Alle vier Krisen bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Sie ergeben eine unberechenbare und gefährliche Mischung. Und was komplex ist und schwierig vorauszusehen, das verunsichert. Dazu kommt noch etwas Anderes.
Was?
Wir haben uns mit dem Internet an schnelle Verbindungen und rasante Lieferungen gewöhnt. Wir wollen etwas wissen, dann schauen wir rasch nach. Wir bestellen am Nachmittag eine Kaffeemaschine, am nächsten Morgen steht sie vor der Tür. Keiner braucht mehr geduldig sein. Und dann kommt diese Krise, die sich unerbittlich in die Länge zieht. Und je länger sie dauert, desto gereizter wird die Stimmung.
In den Kreisen, die Corona tendenziell ignorieren, ist eine grosse Unzufriedenheit spürbar, auch mit dem Bundesrat. Wie nehmen Sie das wahr?
Ich nehme sie vor allem wahr im Zusammenhang mit dem Covid-19 Gesetz. Wir erhielten sehr viele zum Teil gleichlautende Mails. Man spürte Unwillen und Frustration, aber auch bewusst geschürte Missverständnisse. Die Gegner taten so, als ob wir mit dem Covid-Gesetz Zwangsimpfungen einführen, die Menschen von der Strasse holen und unter Androhung von Sanktionen impfen wollten. Das stimmt nicht. Es gibt keine Bestimmung und keinen Artikel im Covid-Gesetz, die etwas ändern in Bezug auf Impfungen. Die Impfungen sind im Epidemiengesetz geregelt, und auch dort gibt es keinen Impfzwang.
In der Schweiz sind immer mehr Verschwörungstheorien zu hören, die sich nicht beweisen lassen.
Ja, und das nicht nur in der Schweiz. Man muss solche Leute mit ihren eigenen Behauptungen konfrontieren. Dem Journalismus kommt hier eine grosse Bedeutung zu.
Die Gegner behaupten sogar, der Bundesrat wolle das Notrecht verlängern, wie im Zweiten Weltkrieg.
Diesen Vergleich halte ich für unpassend. Der Bundesrat begann am 13. März mit den Notverordnungen. Schon am 8. April erteilte er Aufträge, um wieder aus dem Notrecht auszusteigen. Inzwischen hat man alle 18 Notverordnungen geprüft. Viele sollen auslaufen. Von der Vielzahl an Bestimmungen will er nur gerade 14 Artikel für etwas mehr als ein Jahr weiterführen – die meisten davon sind im Übrigen Kompetenzen, um besonders Betroffene zu unterstützen. Er hat das Gesetz in die Vernehmlassung gegeben, er legt es dem Parlament vor, und jede Bürgerin, jeder Bürger kann das Referendum ergreifen. Das ist dann eben nicht mehr Notrecht, sondern ein normales, wenn auch dringliches Gesetzgebungsverfahren. Und wer das mit der Haltung des Bundesrates nach dem Zweiten Weltkrieg gleichsetzt, verzerrt entweder mutwillig oder hat die Entwicklung der letzten Monate nicht richtig verstanden.
Die Coronakrise gefährdet auch die Demokratie. Es lassen sich kaum mehr Unterschriften sammeln für Initiativen und Referenden.
Das Umfeld erschwert das Sammeln von Unterschriften tatsächlich. Bis zum 31. Mai gab es einen Fristenstillstand. Die Sammelfristen für Initiativen und Referenden sind in der Verfassung geregelt. Für eine Änderung braucht es ein obligatorisches Referendum. Das Umfeld wird vorübergehend schwierig bleiben. Ich behaupte aber: Für ein Anliegen, das die Leute stark beschäftigt, lassen sich auch jetzt Unterschriften sammeln. Eben sind wieder zwei Initiativen eingereicht worden.
Es gibt Vorschläge, um die Krise zu entschärfen. Zum Beispiel könnten Unterschriften erst nach dem Einreichen geprüft werden.
Ja, aber dann müsste vorher das Gesetz geändert werden. Die Komitees würden zwar administrativ entlastet, aber die Probleme beim Sammeln auf den Strassen blieben bestehen.
Hat die Krise den Bundesrat verändert?
Nein, ich glaube eigentlich nicht. Aber die unnötigen Rivalitäten und Händel um Kleinigkeiten haben in den kritischen Monaten etwas abgenommen. Dafür hatte man schlicht keine Zeit mehr. Wir waren schon froh, wenn wir um Mitternacht vor der Bundesratssitzung alle Papiere beieinander hatten.
Zeigten sich in der Krise besondere Schweizer Qualitäten?
Es zeigte sich, was in den entscheidenden Momenten der Schweizer Geschichte schon immer so war: Die Schweiz lässt sich nur schwer «führen». Es war eher so, dass die Schweizer und Schweizerinnen sich selbst zu führen begannen. In jedem Kanton und jeder Gemeinde. In Sigriswil, wo ich wohne, haben die Alten den Jungen telefoniert und Einkaufsbestellungen durchgegeben. Die Jugendlichen sind sofort gegangen. Oft hat der Bundesrat in der Coronakrise nicht instruiert, sondern er hat empfohlen, oder er hat aufgerufen. Und es brauchte auch gar nicht mehr, die Bilder aus Bergamo waren überzeugend genug. Mich hat es beeindruckt, wie in den Monaten März, April vieles wie von selber lief.
Was beeindruckte Sie noch?
Die Kooperation zwischen Milizgesellschaft und Politik. Viele Vertreter der Wirtschaft setzten sich mit den Behörden in Kontakt und fragten, was sie tun könnten. Sie brachten Vorschläge ein, wie man zu Masken kommt oder wie Lungenmaschinen oder Ethanol produziert werden könnten. Das war sehr schweizerisch. Wir sind viel zu klein, und es entspricht uns auch nicht, dass die Politik allein für die Lösung aller Probleme sorgt.
Das ist ein Lob an die Wirtschaft?
Das ist ein Kompliment an die Wirtschaft. Viele Unternehmer verstanden sich in diesen Wochen nicht nur als Arbeitgeber, sondern als Teil einer funktionierenden Gesellschaft. Gleichzeitig hat man gesehen, wie wichtig ein Fundament ist: Ein Gesundheitswesen auf hohem Niveau, keine zu grossen sozialen Ungleichheiten, gute Instrumente der Arbeitslosenversicherung, eine gute Schulbildung, um nur ein paar zu nennen. Wie wir durch eine Krise kommen, hängt sehr stark vom Zustand ab, den wir erreicht haben, bevor wir in die Krise schlitterten.
Unübersichtlich wurde es aber, als der Bundesrat den Lockdown lockerte. Kann der Föderalismus keine Krise?
Die Krise hat alle Vor- und Nachteile des Föderalismus an die Oberfläche gespült. An sich ist der Föderalismus ein geniales Konzept, weil es die Nähe der Betroffenen zu einem Entscheid und zu den Entscheidträgern herstellt. Es war zum Beispiel bemerkenswert , wie sich das Tessin in der Krise organisiert hatte.
Und die Nachteile?
Die Absprachen funktionierten nicht reibungslos. Wir wussten zuweilen nicht mehr, wer «die Kantone» sind: die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK), die Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) oder die einzelnen Kantonsregierungen? Grundsätzlich ist der Föderalismus aber eine gute Grundlage. Ich wäre sehr vorsichtig, zu viel an ihm herumzuschrauben.
Welche Lehren ziehen Sie noch aus der Krise?
Es ist noch zu früh für eine abschliessende Wertung. Zurzeit evaluieren wir in verschiedensten Sachgebieten. Ende des Jahres möchte ich dem Bundesrat eine erste Zwischenbilanz vorlegen. Wichtig scheint mir, dass wir vor allem die grundsätzlichen und längerfristigen Konsequenzen aufnehmen, statt uns auf die operationellen Probleme und Problemchen zu versteifen, die in jeder Krise auftauchen und ohnehin oft personenabhängig sind.
An welche längerfristigen Fragen denken Sie?
Etwa an die Frage der digitalen Datenaufbereitung. Hier haben wir noch Nachholbedarf, nicht nur im Gesundheitsbereich.
Wo noch?
Wir sollten aufpassen, dass sich die verschiedenen Sprachregionen der Schweiz nicht friedlich auseinanderleben. Hier sind während der Coronakrise gewisse Emotionen, Befürchtungen und Frustrationen geäussert worden, die vielleicht weniger mit der Coronakrise, sondern mehr mit einer grundsätzlichen Befindlichkeit zu tun haben. Ich habe in den letzten Jahren in der Schweiz mehrere Veranstaltungen erlebt, ausschliesslich nationale Veranstaltungen, an denen englisch – oder etwas Ähnliches wie englisch – gesprochen wurde, statt dass sich alle in ihrer Muttersprache ausdrücken konnten. Längerfristig halte ich das für gefährlich. Wenn wir zum nationalen Zusammenhalt nicht Sorge tragen, werden wir das in der nächsten oder übernächsten Krise spüren.
Sehen sich noch weitere längerfristige Entwicklungen?
Eine Lehre, die wir alle ziehen sollten: Aus langsamen, stetigen Entwicklungen können plötzlich rasant gefährliche Veränderungen entstehen. Vielleicht auch in anderen Gebieten, ich denke an das Klima, die Wirtschaft, die Aussenpolitik und andere. Schriftsteller Pedro Lenz hat das mit einem Buchtitel so gesagt: «Plötzli hets Di am Füdli». Mindestens jene Krisen, die wir kommen sehen, sollten wir besser vorbereiten.
War nicht auch die Mangellage ein Problem?
In der Krise haben wir festgestellt, dass viele für uns wichtige Produkte oder Wirkstoffe nur noch an einem Ort auf der Welt hergestellt werden. Schon vorher waren einige Medikamente Mangelware. In der Coronakrise fehlte es plötzlich an elementaren Produkten wie Muskelrelaxanzien. Das gibt einem schon zu denken.
Soll der Staat bei der Pharma intervenieren? Wie es Cédric Wermuth und Mattea Meyer vorschlagen, die künftigen Co-Präsidenten der SP?
Das Bewusstsein ist tatsächlich gewachsen, dass man für die Notversorgung etwas tun muss. Ich wäre aber vorsichtig, wenn es darauf hinausliefe, der Staat müsse nun alles regeln. Für die Behörden ist es nicht immer einfach zu erkennen, welche wichtigen Produkte fehlen. Die Aktionäre dürften in Zukunft ohnehin mehr auf Diversifizierungen in den Versorgungsketten achten. Wir müssen das sorgfältig prüfen. Wie gesagt: Wir sind noch mitten in der Bewältigung der Krise, das hat jetzt Priorität. Und wir sollten trotz der zweifellos nötigen Korrekturen am Schluss eine sorgfältige Bilanz ziehen. Wer weiss, was noch alles kommen wird.