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Coronavirus: Unterwegs mit Bundespräsidentin Sommaruga im Krisenmodus

Simonetta Sommaruga besucht am Tag der ersten Lockerungen die Schule Länggasse in Bern.
Simonetta Sommaruga besucht am Tag der ersten Lockerungen die Schule Länggasse in Bern.

Rendezvous mit der Realität: Unterwegs mit Bundespräsidentin Sommaruga im Krisenmodus

Vielen kann es nicht schnell genug gehen mit den Corona-Lockerungen, an den Schulen aber ist die Verunsicherung gross. Was Lehrer und Eltern für Sorgen haben, erfährt Simonetta Sommaruga bei einem Schulbesuch.
29.04.2020, 07:4029.04.2020, 08:08
Sven Altermatt / CH Media
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Simonetta Sommarugas Rendezvous mit der Realität

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Simonetta Sommarugas Rendezvous mit der Realität
Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga besucht am Tag der ersten Lockerungen des Lockdowns die Schule Länggass in Bern.
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Natürlich hat diese Krise auch ihre komischen Seiten. Plötzlich beginnt die Bundespräsidentin zu kichern. «Social Distancing im Kindergarten ...», sagt Simonetta Sommaruga, stockt kurz und lacht drauflos. Eben hat sie erfahren, dass dänische Schulbehörden die Abstandsregeln sogar bei den Kleinsten durchsetzen wollen. «Social Distancing im Kindergarten», wiederholt sie, «also das stelle ich mir jetzt schwierig vor.»

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Der Dachstockraum im Grossen Länggassschulhaus in Bern ist frisch desinfiziert, auf den Tischen stehen Coop-Mineralwasser und eine grosse Packung Hygienetücher, es ist Montagmittag kurz vor halb eins, und die Diskussion dauert schon über eine Stunde. Die Tische sind zu einem Hufeisen zusammengeschoben, Sommaruga sitzt mit durchgedrücktem Rücken auf ihrem Stuhl. Immer wieder macht sie sich Notizen. «Ich will wissen, was Sie in der Coronakrise beschäftigt», liess sie zu Beginn wissen, «wie die Stimmung ist.»

Mehrere Hundert Kinder besuchen im Stadtberner Schulhaus die Mittelstufe, dazu kommen die Lehrerinnen und Lehrer, Heilpädagogen und Hauswarte. Einige der Fachkräfte sind eingeladen, der Bundespräsidentin aus der Praxis zu berichten. «Wir vermissen unsere Schüler», sagt Schulleiter Peter Kämpfen, ein Mann mit tiefer Stimme und Walliser Dialekt.

Die Visite im Schulhaus ist ein präsidiales Rendezvous mit der Realität, nach all den Telefonaten, Videokonferenzen und Krisengipfeln. Die Bundespräsidentin will die Dinge nicht nur über ihren Schreibtisch wandern lassen, lautet die Botschaft. Sommaruga möchte, so formuliert sie es selbst, «einen Einblick in die Arbeit der Praktiker erhalten, die nun dafür sorgen müssen, dass es klappt mit den Lockerungen der Corona-Massnahmen».

Diese Zeitung konnte sie während zwei Tagen bei ihren Besuchen begleiten. Die Eindrücke vom Besuch in einer Gärtnerei und bei einem Coiffeur finden Sie hier:

Zwischen «Fürsorge» und «Bevormundung»

Ihre Gesprächspartner erleben eine abgeklärte Bundesrätin. Eine Magistratin, die oft die einfühlsame, aber gerne auch die fordernd-mahnende Landesmutter gibt. Sommaruga verfügt über die Fertigkeit, genau so viel oder genau so wenig zu sagen, damit die Botschaft beim Empfänger ankommt. Sie holt die Erwartungen ab, ohne selbst welche zu schüren. Einmal, nachdem sich die versammelte Lehrerschaft in der Schule geäussert hat, verlangt Sommaruga «bitte noch eine Einschätzung des Hauswarts». Also berichtet ihr der Mann von Hygienemassnahmen und Desinfektionsstationen.

Um die Last, die sie aktuell trägt, beneide er Sommaruga wirklich nicht, wird ein Lehrer später erklären. Doch die Sozialdemokratin ächzt nicht unter der Verantwortung – in der Coronakrise balanciert sie flott zwischen den Koordinaten «Fürsorge» und «Bevormundung».

Die Schulen, diese Stützen der Gesellschaft, spielen in der Öffnungsdebatte eine besondere Rolle. «Sie prägen die öffentliche Stimmung, sind Teil unseres Lebensgefühls», sagt Sommaruga. «Ich bin den Lehrerinnen und Lehrern für ihre Arbeit sehr dankbar.» Mit der Schliessung der Schulen setzte die Regierung im März ein erstes Zeichen des entschlossenen Handelns. Am 11. Mai soll für Hunderttausende Kinder und Jugendliche der Ausstieg aus den Corona-Massnahmen beginnen – unter speziellen Voraussetzungen. Wie diese aussehen, ist noch offen. Erst heute Mittwoch will der Bundesrat ein Schutzkonzept vorlegen. Entsprechend gross ist die Planungsunsicherheit.

Wenn Kleinigkeiten zu Grundsatzfragen werden

Im übertragenen Sinn rückt der Bundesrat gerade sehr nah an sein Volk heran. Die Exekutive beherrscht das Geschehen. Der starke Staat ist gefragt; so sehr, dass Sommaruga schon mal vorsorglich erklärt, keiner der Bundesräte sei dem Machtrausch erlegen. Im Alltag indes ist jede Nähe verdächtig, Abstandhalten oberste Pflicht. «Aber wie, bitteschön, soll das bei uns an der Schule funktionieren?», fragt eine Lehrerin.

Weil derzeit selbst vermeintliche Kleinigkeiten schnell zu Grundsatzfragen werden, will Sommaruga erst mal hören, wie der Schulbetrieb in den vergangenen Wochen funktioniert hat. Die Fachleute tragen ihre Erfahrungen vor. Bis am 13. März sei alles ganz friedlich gewesen, meint Kämpfen lakonisch. «Doch dann mussten wir diese Geschichte aufgleisen.»

Diese Geschichte, das war das Verbot des Präsenzunterrichts. Und das hiess vor allem: organisieren und improvisieren. Nach anfänglichen Problemen habe sich der neue Alltag einigermassen eingespielt. «Viele Kinder erhalten zuhause tolle schulische Hilfe von ihren Eltern», sagt eine Viertklasslehrerin. Einige hätten sich sogar in kleinen, festen Lerngruppen organisiert.

Von einer «Demutsübung für die Eltern» spricht ein Vertreter des Elternrats. «Noch im Winter waren Reklamationen bisweilen kleinteilig. Man könne doch die Kinder nicht bei minus sechs Grad in die Schule schicken, hiess es etwa. Jetzt gabs kaum mehr Beschwerden.» Sommaruga nickt zufrieden. Dass sich die Schere zwischen guten und schwächeren Schülern weiter öffnen könnte, diese Befürchtung teilen alle Anwesenden. Ebenso sind sie sich einig, dass der Fernunterricht nicht überall vom gleichen Stand aus beginnen konnte.

Eine Sechstklasslehrerin findet, man dürfe nun ja nicht zu euphorisch werden, «wir haben auch gelernt: Der reine Fernunterricht ist nicht die Schule der Zukunft». Sommaruga nickt immer heftiger. «Ich bin froh, sagen Sie das. Denn ich führe auch nicht gerne jede Sitzung per Videokonferenz.» Jetzt nickt der ganze Raum.

Als die Rede auf den Schulstart am 11. Mai kommt, begreift Sommaruga die zwingende Symbolik: Die Bundespräsidentin ist da, was soll da noch schiefgehen. Sanft dämpft sie die Erwartungen. Mehrfach verweist sie auf das Spannungsfeld, in dem sich der Bundesrat befindet. Die Volksschule ist an sich Sache der Kantone und Gemeinden. Wie tief wird das Bundeskonzept greifen? Was empfiehlt es, um vulnerable Personen zu schützen? Sind Eltern bald vom Homeschooling entlastet? Und wird der Bundesrat selbst bei pädagogischen Aspekten mitreden?

Schule und Social Distancing, das passt nicht so richtig

«Zwei Meter Abstand, das können sie hier schlicht vergessen», sagt Schulleiter Kämpfen vorab. Er vergleicht sein Schulhaus mit einem Bienenhaus. Die Frage, welche Rolle die Kinder als Krankheitsüberträger in der Pandemie spielen, kann ihm natürlich auch Sommaruga nicht beantworten. Die Haltungen sind selbst in Wissenschaftskreisen geteilt.

Peter Kämpfen weiss:

«Wie bei den Virologen gehen die Meinungen an den Schulen auseinander.»

In seiner Lehrerschaft, kristallisiert sich heraus, wünschen sich die meisten ein gestaffeltes Vorgehen. Zuerst Unterricht in Fünfergruppen zum Beispiel, dann in Halbklassen und erst später regulärer Präsenzunterricht. Vielleicht könnte auch abwechselnd die eine Klassenhälfte an der Schule sein, die andere im Fernunterricht.

Luft für mehr sehen die Länggässler eher nicht. «Wir sollten behutsam öffnen, nicht überstürzt», warnt eine Lehrerin. Woraufhin die ebenfalls anwesende Stadtberner Bildungsdirektorin Franziska Teuscher einwendet, dass die Betreuungssituation der Familien halt ebenso berücksichtigt werden müsse. Diesmal nickt Sommaruga eher ernst.

«Jetzt muss ein Ruck durch unser Land gehen!», forderte sie im März. Und kündigte an: «Wir lassen euch nicht im Stich. Der Bundesrat kümmert sich um euch.» Es ist das Versprechen dieser Krise, adressiert in der zweiten Person Plural. Die Mittel, nach denen der Bundesrat greifen kann, übersteigen seine reguläre Machtfülle. Doch bei den Diskussionen um die Schulöffnung stösst auch eine im Notrecht regierende Bundespräsidentin an Grenzen. Als sich Sommaruga mit Pralinen von den Lehrern verabschiedet, bedankt sie sich für die Einblicke und wünscht «alles, alles Gute».

Alles hängt in der Coronakrise mit allem zusammen, in den Schulen wird das wie in einem Brennglas sichtbar. Das Land geht mit dem Virus ins Bett und steht damit wieder auf. «Unsere Verantwortung als Bundesrat ist gross», sagt Simonetta Sommaruga nach dem Schulbesuch im Gespräch.

«Fast jeder Entscheid jetzt betrifft die Bevölkerung und Wirtschaft ganz direkt, davor habe ich weiterhin Respekt.»

Zuletzt spürte Sommaruga, wie schnell die Stimmung drehen kann. Während Wochen schienen alle vollends zufrieden mit dem Krisenmanagement des Bundesrats. Nun jedoch steht er unter Verdacht, dass ihm strategisches und kommunikatives Geschick abhandengekommen sind. Sein Exit-Konzept – eine vorsichtige Öffnung mit einigen Unbekannten – überzeugt viele nicht. Ihnen fehlt ein Datum als Hoffnungsschimmer, und so ist es vorbei mit der Untertänigkeit.

Was, wenn die tiefen Eingriffe ins öffentliche Leben nicht mehr als Preis für die Rettung von Menschen empfunden werden, sondern als Schikane? Für Sommaruga stellen sich die Dinge anders dar. Die schrittweise Öffnung sei notwendig, um eine zweite Welle abzuwenden:

«Das wäre ein harter Schlag für die Bevölkerung und die Unternehmen. Mit einer erneuten, unkontrollierten Welle droht die Wirtschaft noch tiefer in die Rezession zu rutschen, auch Schulen stünden wieder bei Null.»

Man müsse alles Notwendige tun, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und die Folgen der Krise abzufedern. «Wir wollen die bisherigen Erfolge nicht gefährden.»

Wenn sich alle Leute an die neuen Schutzmassnahmen hielten, ebenso an die bewährten Distanz- und Hygieneregeln, dann komme es nicht zu Rückfällen. Da ist sie wieder, die Mahnerin. Am 11. Mai öffneten nebst den Schulen ja auch die Läden wieder, sagt Sommaruga, und vielleicht könne sogar noch mehr aufgehen. «Das wird vielen Menschen eine gute Perspektive geben.»

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