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Balthasar Glättli: «Unsere Grundrechte sind in der Krise nicht geschützt»

Balthasar Glättli: «Unsere Grundrechte sind in der Krise nicht genügend geschützt»

Grünen-Fraktionschef Glättli will eine stärkere Kontrolle des Bundesrates in Notzeiten und erklärt die Zahmheit der Partei.
23.04.2020, 06:51
Lucien Fluri / ch media
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Die Grünen sind die grösste Oppositionspartei. Im Moment spürt man davon wenig. Sie geben dem Bundesrat mehr Rückendeckung als manche Bundesratspartei.
Balthasar Glättli:
Es gibt beim Coronavirus, wie auch bei der Klimapolitik, wissenschaftliche Tatsachen. Diese darf man nicht verpolitisieren. Es war richtig, dass sich der Bundesrat auf die Fachleute abgestützt hat.

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Balthasar Glättli: «Wir unterstützen den Bundesrat, aber nicht unkritisch.»Bild: KEYSTONE

Trotzdem ist erstaunlich. Die SVP hat zwei Bundesräte und macht mehr Opposition.
Vor allem verhält sie sich extrem widersprüchlich. Sie greift den Bundesrat am schärfsten an. Aber gleichzeitig wollte sie keine Parlamentssitzungen mehr, bis der Notstand aufgehoben wird.

>> Coronavirus: Alle Inlandnes im Liveticker

Grünen-Präsidentin Regula Rytz hat auch nicht auf eine schnelle Stärkung des Parlaments gedrängt.
Ich stehe dazu: Ich habe den Abbruch der Session hinter den Kulissen miteingefädelt. Es wäre nicht glaubwürdig gewesen, von allen zu verlangen, Hygiene- und Distanzvorschriften einzuhalten, während das Parlament auf engem Raum tagt. Aber gleichzeitig beschlossen wir, raschmöglichst einen neuen Tagungsort zu finden. Hier ging es mir zu langsam.

Trotzdem: Der Bundesrat handelt einschneidend, mit Notrecht. Und Sie als Oppositionspartei stärken ihm den Rücken. Das passt nicht.
Wir stützen den Bundesrat, aber nicht unkritisch.

Sondern?
Es zeigt sich, dass unser System die Grundrechte nicht genügend schützt. Die Versammlungsfreiheit oder die Wirtschaftsfreiheit sind extrem eingeschränkt. Der Bundesrat versichert uns zwar, dass er genau abwägt zwischen der Notwendigkeit der Notverordnungen und den Grundrechten. Aber einzig das Bundesamt für Justiz prüft, ob die Einschränkungen verhältnismässig sind, oder ob man nicht auch mit milderen Massnahmen den gleichen Effekt erzielen könnte. Das ist falsch.

Was wäre richtig?
Das Bundesgericht müsste im Eilverfahren Notstandsverordnungen, die vom Bundesrat oder vom Parlament erlassen werden, abstrakt auf ihre Verhältnismässigkeit prüfen können.

Das wäre ein Schritt hin zu einem Verfassungsgericht.
Richtig. Allerdings nur in der Notstandssituation, wenn Bundesrat und Parlament enorme Vollmachten haben. In einer Notstandsituation wäre ein Verfassungsgericht wünschenswert

Wo hat der Bundesrat aus Ihrer Sicht die Verhältnismässigkeit verletzt?
Letzte Woche noch wollte der Bundesrat, dass Grossverteiler bald wieder ihr ganzes Sortiment anbieten dürfen, der kleine Laden mit den gleichen Produkten aber noch zwei Wochen warten muss. Für eine Ungleichbehandlung gibt es aus meiner Sicht keine epidemiologische Begründung. (Hinw.d.Red. Der Bundesrat hat diesen Entscheid mittlerweile korrigiert. )

Wenn nun das Parlament Anfang Mai wieder tagt: Was ist das dringendste Geschäft?
Eine völlig ungelöste Situation herrscht bei den Mieten. Es ist ein Skandal, dass der Bundesrat Geschäfte schliesst und den Mietern damit verbietet, ihr Mietobjekt zu nutzen – aber keine Regeln dazu erlässt. Das Vorgehen kommt einer Enteignung gleich. Eine Miete soll nicht mehr bezahlt werden müssen, wenn man aus diesem Grund gemietete Räume nicht nutzen kann. Hier muss das Parlament nachbessern.

«Wenn es darum geht, mit Milliarden die Konjunktur anzukurbeln, darf man nicht mehr in die graue Wirtschaft von gestern investieren.»

Wenn Mieter nicht mehr bezahlen, haben einfach die Vermieter den Schaden. Viele Immobilien gehören Pensionskassen. Da nimmt man anderen Leuten das Geld.
Wenn es bei kleinen und privaten Vermietern Härtefälle gibt, muss man eine Lösung suchen. Die grossen Immobilienfonds und Pensionskassen haben Risikorücklagen für Leerstände. Hier ist die Frage: Müssen sie diese Reserven jetzt anbrauchen, damit der Mieter überlebt und nachher wieder Miete bezahlen kann. Oder sollen sie die Reserven brauchen, wenn der Mieter pleite ist?

Seit dem Lockdown verschickten die Grünen vor allem Medienmitteilungen, die sich ums Klima drehten. Haben die Leute jetzt nicht andere Sorgen?
Es besteht die Gefahr, dass man jetzt, nach einer Delle, um jeden Preis zum vorherigen Zustand zurückkehren will. Das wäre falsch. Wenn es darum geht, mit Milliarden die Konjunktur anzukurbeln, darf man nicht mehr in die graue Wirtschaft von gestern investieren. Dagegen wehren wir uns. Mit diesem Geld müssen wir den Umbau hin zur grünen Wirtschaft der Zukunft fördern.

Glauben Sie tatsächlich, dass die Menschen, teilweise in existenzieller Not, gerade jetzt für einen solchen Umbau offen sind?
Die Pandemie hat in ganz kurzer Zeit die ganze Welt durcheinandergewirbelt. Dies weckt bei vielen Leuten ein Bewusstsein, wie zerbrechlich die Grundlagen sind, auf denen unsere Gesellschaft und Wirtschaft aufgebaut ist. Viele Leute werden aus der Erfahrung der letzten Wochen verändert hervorgehen. Sie wollen dann auch für das Jahrhundertrisiko Klima rechtzeitig handeln.

Die Krise als Chance?
Ja. Vielen wird jetzt bewusst, dass man vieles rasch ändern kann. Viele können sich vorstellen, künftig weniger zu pendeln und Ressourcen zu sparen. Ich sehe aber auch eine Gefahr: Wenn es uns nicht gelingt, die Unterstützung so auszugestalten, dass alle die nötige finanzielle Hilfe erhalten, wird ein Keil in die Gesellschaft getrieben. Dann wird die soziale Auseinandersetzung im Vordergrund stehen.

Tut der Bundesrat genug, um dies zu verhindern?
Es hat viel zu lange gedauert, bis alle Selbstständigen eine Absicherung erhalten haben. Nun hat der Bundesrat entsprechende Beschlüsse gefasst. Noch nicht gelöst ist die Frage der Krippen. Hier wird das Parlament handeln müssen.

Einer der nächsten grösseren Entscheide könnte die Liquiditätshilfe für die Swiss sein.
Für uns ist klar: Eine Stütze darf es nur geben, wenn sich die Branche klar zu den Klimazielen bekennt. Das heisst: Es braucht eine Flugticketabgabe und Inlandflüge müssen gestrichen werden.

Es geht um die Unterstützung einer systemrelevanten Branche. Opfern Sie mit Ihren Forderungen nicht wirtschaftlichen Wohlstand dem Klimagedanken?
Die Branche muss strukturell sowieso schrumpfen und grüner werden. Es wäre auch finanzpolitisch unverantwortlich, sie jetzt mit Staatsmillionen aufzubauen, um sie dann später mit weiteren Staatsmillionen umzubauen.

Es ist unklar, ob das Parlament dazu viel sagen kann.
Eine solche Entscheidung darf der Bundesrat nicht in Form einer Notverordnung treffen. Wir erwarten, dass diese Frage politisch breit diskutiert werden kann. Es braucht die Möglichkeit für ein Referendum, falls die Branche nicht zu Klimazugeständnissen bereit ist.

Krisenzeiten sind Exekutivzeiten. In Deutschland verlieren die Grünen in Umfragen. Die Klimafrage rückt in den Hintergrund. Haben Sie als künftiger Grünen-Präsident Angst, mit Niederlagen zu starten?
Umfragen sind Umfragen, Wahlen sind Wahlen. Die haben wir weiter gewonnen. Zudem: Wir haben in der Schweiz kein Oppositionsregierungssystem. Der Bundesrat ist sicher gestärkt. Aber der Bundesrat ist nicht gleich die Bundesratsparteien. (aargauerzeitung.ch)

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32 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Chancho
23.04.2020 08:19registriert Februar 2020
Chapeau Monsieur Glättli, einer der wenigen Politiker mit Weitsicht.
Hätte gerne noch etwas mehr zu sozialen und digitalen Themen von ihm gehört.
Weiter so!
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Art Peterson
23.04.2020 08:10registriert Dezember 2018
Ich bin sehr froh führt uns der Bundesrat mit der Hilfe von ausgewiesenen Experten durch die Krise und nicht die selbsternannten Experten in unserem Parlament. Egal ob links oder rechts.
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Gipfeligeist
23.04.2020 08:26registriert Januar 2016
"Es besteht die Gefahr, dass man jetzt, nach einer Delle, um jeden Preis zum vorherigen Zustand zurückkehren will. Das wäre falsch."

Stimme ich absolut zu. Natürlich haben viele Leute momentan finanzielle Schwierigkeiten, aber der Status-Quo wird eine gesamte Generation in Probleme stürzen. Beim Aufbau der Wirtschaft darf nur in sozialverträgliche, nachhaltige Unternehmen investiert werden, die den Menschen und nicht den Share-Holders dienen
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