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Livia Leu: An ihr liegt es nicht, wenn das EU-Abkommen scheitert

AVIS --- ZU LIVIA LEU, DESIGNIERTE STAATSEKRETAERIN UND DIREKTORIN DER DIREKTION FUER EUROPAEISCHE ANGELEGENHEITEN (DEA), STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES NEUES PORTRAIT ZUR VERFUEGUNG. WEITERE BILDER FIND ...
Für kreative Lösungen sieht sie keinen Raum: Staatssekretärin Livia Leu.Bild: keystone

Livia Leu: Eine Chefunterhändlerin im engen Korsett

Die Staatssekretärin kämpft für das Rahmenabkommen mit der EU. Aber der Bundesrat hat der Diplomatin harte Vorgaben gemacht.
04.05.2021, 05:4604.05.2021, 06:51
Francesco Benini / ch media
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Livia Leu schweigt. Das ganze Land fragt sich, ob der Rahmenvertrag noch zu retten ist. Chefunterhändlerin Leu schweigt seit Mitte Oktober, als der Bundesrat sie zur Staatssekretärin ernannte.

Leu sagt nichts, weil das Verhandlungsmandat geheim war, das ihr die Landesregierung auf den Weg gab – vor einer Woche machte es der «Tages-Anzeiger» dann in Auszügen bekannt. Und die Unterhändlerin will nicht, dass es ihr gleich ergeht wie ihrem Vorgänger. Und dessen drei Vorgängern.

Es soll ihr nicht ergehen wie ihren Vorgängern

Roberto Balzaretti warb überall für das Abkommen, das er selber ausgehandelt hatte. Der Bundesrat war darüber nicht begeistert, denn er wollte Nachbesserungen am Vertrag. Wie sollte die jemand aushandeln, der das Abkommen ausgezeichnet fand, so wie es vorlag?

Also kam es im Oktober 2020 zu einer ungewöhnlichen Rochade: Die Schweizer Botschafterin in Paris, Livia Leu, wurde zur Staatssekretärin im Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ernannt. Roberto Balzaretti ersetzte Leu als Botschafter in Paris.

Leu sprach nur, als Aussenministerin Ignazio Cassis sie im Herbst an einer Medienkonferenz vorstellte. «Ein Rahmenabkommen ist notwendig, um dem bewährten bilateralen Vertragswerk eine solide Basis für die Zukunft zu geben», sagte sie. Und: «Ich bin zuversichtlich, dass mit gutem Willen auf beiden Seiten und Verhandlungskreativität ausgewogene Lösungen gefunden werden können.»

Das Wort «Verhandlungskreativität» wird der Unterhändlerin nun unter die Nase gerieben. Die Schweiz will die Personenfreizügigkeit nicht so extensiv übernehmen, wie das die EU wünscht. An diesem Punkt stecken die Verhandlungen fest.

Bei der EU trifft Leu auf eine starke Kontrahentin

SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, der für das Abkommen kämpft, sagt: «Frau Leu wirkt auf mich zurückhaltend. Sie ist keine Überzeugungstäterin wie Herr Balzaretti; von dessen Feu sacré ist wenig zu spüren. Und von der Verhandlungskreativität, die sie angekündigt hat, ist bisher noch zu wenig erkennbar.»

Nur drei Wochen, nachdem der Bundesrat Leu als Chefunterhändlerin eingesetzt hatte, legte die Landesregierung ihr Verhandlungsmandat fest. Im EDA ist zu hören, dass Leu überrascht gewesen sei, wie schnell das geschah. Die Zeit, um Einfluss zu nehmen, war für sie zu kurz. Jemand meint, man habe sie in ein enges Korsett gesteckt.

Auf der Gegenseite wartete eine starke Kontrahentin. Stéphanie Riso, stellvertretende Kabinettschefin der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, war beteiligt an der Aushandlung des Brexit-Vertrags. Und es gibt Leute in Brüssel, die sagen: Dass die Länder der Europäischen Union nun doch schneller mit Impfstoff versorgt werden, als Anfang Jahr zu befürchten war, sei auch Stéphanie Riso zu verdanken.

Im entscheidenden Punkt nicht zu Konzessionen bereit

Leu stimmte sich von Anfang an mit den Zuständigen im Bundesamt für Migration und im Staatssekretariat für Wirtschaft ab. Wie man hört, lief die Zusammenarbeit reibungslos. Und Leu konnte auf ihre Erfahrung als Verantwortliche der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz zurückgreifen; diese Funktion besetzte sie von 2013 bis 2018.

Die Verhandlungen wurden professionell geführt auf beiden Seiten. Und es zeigte sich schnell, dass beide Seiten in den entscheidenden Fragen so gut wie keine Konzessionen machen wollten. Darum kam man nicht voran.

Livia Leu blieb ruhig. Es war nicht ihr Vertrag, über den sie zu Tisch sass. Und das Verhandlungsmandat hatte der Bundesrat festgelegt, nicht sie. Leu versucht, einen Auftrag zu erfüllen. Wenn es zu keinem Vertragsabschluss kommt, ist das weder ihr noch Stéphanie Riso anzulasten. Die Interessen der beiden Auftraggeber überschneiden sich nicht genug.

Nicht wegzubringen: der Geist von Michael Ambühl

Leu gibt Informationen an interessierte Kreise in der Schweiz nur in kleinen Dosen weiter. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Valentin Vogt, sagt: «Frau Leu lässt sich im Moment nicht auf längere Diskussionen mit uns zum Thema Rahmenabkommen ein.» In den zuständigen Parlamentskommissionen erhofften sich einige National- und Ständeräte einen regeren Austausch. Der Mangel an Kontakten trug dazu bei, dass sich ein Gerücht am Leben hält: Michael Ambühl steuere Livia Leu.

Ambühl, 69, früherer Staatssekretär, ist der Grand Old Man der Schweizer Diplomatie. Er hält wenig vom institutionellen Rahmenvertrag mit der EU. Die Schweiz gebe viel und erhalte wenig, findet Ambühl. Er arbeitete mit Leu zusammen, als die Schweiz vor 15 Jahren versuchte, den Boden für ein Atomabkommen zwischen den USA und Iran zu bereiten. Und er ist noch immer im Geschäft: Für das EDA erstellte er im vergangenen Jahr eine Analyse über die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union.

Steht Leu unter dem Einfluss Ambühls? Ein Mitarbeiter des EDA findet diese These bemühend. Natürlich gebe es einen Austausch zwischen den Personen, die sich auskennen in den Aussenbeziehungen der Schweiz. Aber eine erfahrene Diplomatin wie Leu, die Botschafterin gewesen sei in Kairo, Teheran und Paris und die wichtige Abteilungen des EDA geführt habe, lasse sich sicher nicht von Ambühl den Kurs vorgeben. Wer das Gerücht verbreite, hänge überkommenen Klischees zu den Geschlechterrollen nach.

Livia Leus Vorgesetzter, Aussenminister Ignazio Cassis, sieht den Rahmenvertrag positiver als Ambühl und auch als der Gesamtbundesrat. Cassis ist kein einfacher Chef. Über seine Schwächen weiss inzwischen ganz Bundesbern Bescheid. Allzu eilfertig übernimmt er die Meinungen seiner Gesprächspartner. Und er trägt Anträge in die Regierung, ohne zuvor abgeklärt zu haben, ob er auf die Unterstützung anderer Bundesräte zählen kann. Prompt ist er mehrmals auf die Nase gefallen.

Höhepunkt und Abschluss der beruflichen Laufbahn

Das Verhältnis des Aussenministers zur Staatssekretärin werde dadurch aber kaum belastet, hört man im EDA. Leu wird in diesem Jahr 60; das Amt als Staatssekretärin ist die Krönung und wohl auch der Abschluss ihrer beruflichen Laufbahn. Da fällt es leichter, sich nicht lange mit Unzulänglichkeiten aufzuhalten. Leu konzentriert sich auf ihre Dossiers. Sie tut das mit einer Beharrlichkeit und Gründlichkeit, die ihr den Respekt der Personen abverlangt, mit denen sie es zu tun hat.

Die Verhandlungen über den Rahmenvertrag werden trotzdem kaum zu einem guten Ende kommen. FDP-Nationalrätin Christa Markwalder ist für das Abkommen, macht der Unterhändlerin aber keine Vorwürfe. Sie sagt:

«Der Gesamtbundesrat hat Staatssekretärin Leu auf eine ‹Mission impossible› geschickt.»

Die drei strittigen Punkte von künftigen Rechtsentwicklungen auszunehmen, sei unrealistisch, betont Markwalder.

Livia Leu wird sich wohl bald verstärkt anderen Themen zuwenden. Sie ist im EDA nicht nur für Europa, sondern für die ganze Welt zuständig. Die Vorgaben, die ihr gemacht werden, sind da nicht so eng wie beim Rahmenvertrag. (aargauerzeitung.ch)

EU-Kommission sistiert Teilnahme der SBB an Forschungsprogramm
Die festgefahrenen Verhandlungen über ein Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU haben Konsequenzen für die SBB. Die EU-Kommission hat die Teilnahme der Schweiz am EU-Forschungsprogramm «Europe's Rail Joint Undertaking» auf Eis gelegt. Das bestätigte SBB-Sprecherin Sabine Baumgartner gegenüber der «Neuen Zürcher Zeitung».

Die EU begründet diesen Schritt mit der fehlenden Assoziierung der Schweiz am neuen Forschungsprogramm «Horizon Europe». Die EU hat laut NZZ die Teilnahme der Schweiz wegen mangelnder Fortschritte beim Rahmenabkommen blockiert. Zudem wolle die EU die Gespräche über eine Forschungskooperation erst beginnen, wenn die Schweiz den hängigen zweiten Kohäsionsbeitrag freigebe.

Die SBB droht damit zum jüngsten Opfer der fehlenden Einigung zwischen Bern und Brüssel zu werden. Die SBB will sich mit einem höheren Millionenbeitrag am neuen EU-Forschungsprogramm für den Schienenverkehr beteiligen, wie die NZZ weiter schreibt.

Es handelt sich dabei um eine von zehn Partnerschaften, mit denen Brüssel die ökologische und digitale Transformation fördern will. Die EU-Kommission sieht dafür bis zu 10 Milliarden Euro vor. Das Bahnprogramm soll den Schienenverkehr wettbewerbsfähiger machen. (sda)
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