Wann steht Thomas N., mutmasslicher Vierfachmörder von Rupperswil AG, vor Gericht? Das ist auch ein Jahr nach seiner Verhaftung noch unklar. Bislang hat die Staatsanwaltschaft noch nicht einmal Anklage gegen den 34-Jährigen erhoben. Wie es dazu kam – eine Geschichte in fünf Akten.
Kurz vor Weihnachten 2015: In Rupperswil AG steht ein Einfamilienhaus in Flammen, die Feuerwehrleute entdecken darin vier Leichen. Wie sich später herausstellt, handelt es sich um Carla S. (48), ihre beiden Söhne Davin (13) und Dion (19) sowie die Freundin des älteren, Simona F. (21). Schnell machen Spekulationen über ein angebliches Verbrechen die Runde. Tags darauf bestätigt die Aargauer Oberstaatsanwaltschaft: Es handelt sich um ein Kapitalverbrechen, die Opfer weisen Stich- und Schnittverletzungen auf. Der Brand wurde absichtlich gelegt. Klar ist auch: Der Täter ist nicht unter den Toten, er muss also noch auf freiem Fuss sein.
Nach der Information durch die Staatsanwaltschaft gibt es in den Medien kein Halten mehr: «Drehte der Ex-Mann durch?», fragt der «Blick», «War es ein Familiendrama?», lautet die Schlagzeile des «Tages-Anzeigers». Derweil suchen die Ermittler fieberhaft nach Hinweisen. So bitten sie etwa um Informationen zu einem hellen Kleinwagen, der am Tatort gesehen worden sein soll.
Mehrere Personen werden befragt und wieder gehen gelassen. Bekannt wird auch, dass Carla S. am Morgen vor ihrem Tod an einem Geldautomaten und in einer Bankfiliale grössere Geldbeträge abgehoben hat. Die Polizei veröffentlicht ein Foto einer Überwachungskamera, das Carla S. am Bankschalter zeigt. Es bleibt lange Zeit die einzige konkrete Spur im Fall Rupperswil.
Zwar gehen hunderte Hinweise bei der Polizei ein, Dashcam-Videos werden ausgewertet, auch die internationale Polizeibehörde Interpol schaltet sich ein – doch der Durchbruch bleibt aus. Zwei Monate nach der Tat setzt die Staatsanwaltschaft eine Belohnung von 100’000 Franken aus. Bekannt wird auch, dass am Tatort DNA sichergestellt wurde, doch ein Abgleich mit den internationalen Datenbanken bringt keinen Treffer.
Das Verbrechen für die ZDF-Sendung «Aktenzeichen XY – ungelöst» verfilmt. In akribischer Kleinarbeit werten die Behörden zudem zehntausende Handydaten aus, die am Tatmorgen in der Region Rupperswil registriert wurden. Weitere Monate ziehen ins Land.
Nach 146 Tagen, als viele schon nicht mehr mit einer Aufklärung des Falls rechnen, schlägt die Polizei zu: Am 12. Mai verhaftetet sie den 33-jährigen Thomas N. aus Rupperswil. Was die Strafverfolgungsbehörden tags darauf an einer Pressekonferenz schildern, erschüttert selbst hartgesottene Ermittler.
Markus Gisin, Chef der Kriminalpolizei Aargau, führt aus, der Täter – das Wort «mutmasslich» fällt nicht – habe sich «mittels einer List» Zugriff zum Haus verschafft, Carla S. gezwungen, ihren älteren Sohn und dessen Freundin zu fesseln, und sie anschliessend zum Geldabheben geschickt. «Im Anschluss daran verging sich der Täter am jüngeren Sohn von Frau S.. Nach dieser Tat hat er die vier Personen im Haus getötet, indem er ihnen die Kehle durchgeschnitten hat. Nach diesen Tötungen hat der Täter mittels Brandbeschleuniger Feuer gelegt und dann das Haus unerkannt verlassen.»
Auch die leitende Staatsanwältin Barbara Loppacher lässt keinen Zweifel an der Schuld von Thomas N.: «Der Täter hat gestern in den Einvernahmen ein vollständiges Geständnis abgelegt», sagt sie vor der versammelten Presse. Das Motiv des nicht vorbestraften N. sei finanzieller und sexueller Natur gewesen, hält sie fest. Kripo-Chef Gisin verweist weiter darauf, dass N. bereits weitere Taten geplant haben dürfte. Darauf deute ein Rucksack mit Fesselutensilien hin, der beim Mann gefunden worden sei.
Anklage und Verurteilung scheinen zu diesem Zeitpunkt nur noch Formsache. Indem sie konsequent vom «Täter» und nicht vom «mutmasslichen Täter» sprechen, hebeln Polizei und Staatsanwaltschaft die Unschuldsvermutung aus. Die Folge: In den Medien – auch bei watson – ist Thomas N. fortan der «Vierfachmörder» von Rupperswil.
Das war vor einem Jahr. Bis heute wurde jedoch trotz der scheinbar glasklaren Faktenlage keine Anklage erhoben. «Wie in jedem Strafverfahren ist die Dauer von mehreren Faktoren abhängig», sagt Fiona Strebel, Sprecherin der Staatsanwaltschaft, am Mittwoch im «Blick» kryptisch. Sie gibt lediglich bekannt, dass Anträge auf Fristverlängerung und Ergänzungsanträge zur psychiatrischen Begutachtung gestellt worden seien.
Das heisst im Klartext: Es wird um die psychiatrischen Gutachten gestritten. Worauf die Ergänzungsanträge abzielen oder wie viele Gutachter mit dem Fall betraut sind, sagt Strebel auf Anfrage nicht.
Der forensische Psychiater Thomas Knecht sagt im Gespräch mit watson, das Erstellen eines Gutachtens sei in einem Fall wie diesem besonders aufwendig. «Wenn eine Person nicht vorbestraft war, kann man nirgends anknüpfen: Man muss bei Null anfangen, den ganzen Lebenslauf zusammen mit Auskunftspersonen rekonstruieren, damit einem sicher nichts entgeht.»
Es gelte, insbesondere die Kindheit des Beschuldigten nach allfälligen Warnhinweisen zu durchforsten: «Als ominös gilt es etwa, wenn jemand im vorpubertären Alter Tiere gequält oder Brände gelegt hat.» Um dies zu ermitteln, müssten enge Bezugspersonen aus der Familie, der Schule und der Nachbarschaft beigezogen werden.
«Weil das circa Dutzend Top-Gutachter, das es in der Schweiz gibt, sehr gut ausgelastet ist, sind Wartefristen von einem halben Jahr oder einem Jahr gut möglich», so Knecht. Spekuliert wird auch, ob Thomas N. möglicherweise sein Geständnis wieder zurückgezogen hat. Das kommt laut Knecht aus taktischen Gründen immer wieder vor: «Zunächst gesteht der Verdächtige in der Hoffnung, dass die Spurensicherung dadurch vorzeitig abgebrochen wird, und dann widerruft er seine Aussagen später.»
Wenn es zu einer Anklage kommt, wird eine der entscheidenden Fragen wohl sein, ob N. lebenslang verwahrt werden kann. Möglich ist das nur, wenn ein Täter als «nicht therapierbar» eingestuft wird – und zwar von mindestens zwei unabhängigen, erfahrenen Gutachtern. So sieht es der Verfassungsartikel zur 2004 angenommenen Verwahrungsinitiative vor.
Wie wahrscheinlich es ist, dass ein Mann Mitte Dreissig ohne Vorstrafen als untherapierbar eingestuft wird, kann Knecht aus der Ferne nicht beurteilen. So sei eine Psychose im Vergleich zu einer Persönlichkeitsstörung etwa gut behandelbar. «Sollte Thomas N. die Tat etwa in einer Manie oder in einer schizophrenen Phase begangen haben, wäre die Behandelbarkeit gegeben.»
Weiter ist es laut Knecht auch nicht zulässig, von der Schwere der Tat auf die Wahrscheinlichkeit einer Verwahrung zu schliessen. Zwischen dem Tathergang und dem Gesundheitszustand des Täters bestehe keine direkte Korrelation: «Die Gleichung ‹je brutaler die Tat, desto kränker die Person› funktioniert nicht.»