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Ode an die Nebensaison

Das Karussell in Brighton dreht selbstvergessen seine Runden. Bild: Simone Meier
Genug von Staus? Von Stress? Von Menschen?

Ode an die Nebensaison

17.04.2014, 21:1223.06.2014, 10:07
Simone Meier
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Der Mensch ist des Menschen Feind, ganz besonders in den Ferien. Denn das Zuviel an Menschen mindert unvermeidlich die Ferienfreude, es sei denn, man braucht das. Also die Strände mit der Ästhetik einer bleichhäutig prallen Cervelat-Auslage. Die Restaurants, die nicht nur voll mit Erwachsenen sind, sondern auch noch mit Kindern, die krähen wie am Spiess, weil sie gerade über den eigenen Hund gestolpert oder auf einen Seeigel getreten sind. Die Strassen, Züge und Flugzeuge, die so verstopft sind wie ein Elefant, der zwei Tonnen Bananen gegessen hat. Die groteske Hässlichkeit des Menschen, der sich ausgerechnet in den Ferien als albernes Reisegruppen-Groupie entdecken muss.

Wenn Sie also all dies weder wollen noch brauchen, wenn sie ein freier Mensch mit freiem Willen sind, dann gönnen Sie sich doch den Luxus der freien Wahl, dann geniessen Sie das Leben in der Nebensaison. Der Hors Saison also, was auf Französisch klingt, als sei sie ein bisschen hors sol, also nicht ganz von dieser Welt, was durchaus stimmt, denn die Nebensaison macht aus Touristenorten wieder die Paradiese, die sie einmal waren. Die Nebensaison ist jene rare Zeit ausserhalb der Ferien, und am schönsten ist sie im Frühling und im Herbst, dann also, wenn sich das Jahr voller Freude auszuprobieren beginnt oder sich satt und zufrieden langsam wieder zur Ruhe legt.

Völlig verliebt in Saint-Malo

Es liegt ein Zauber über der Nebensaison, der sich nur schwer erklären lässt. Er hat mit mit Leere zu tun, mit Weite, mit Räumen, in denen die eigenen Schritte nachhallen, als wäre man der letzte Mensch, der abtritt von der Bühne, die sich Welt nennt. Mit Kellnern in alten Hotelbars, die sich von Cholerikern in Melancholiker verwandeln und immer ein wenig an Thomas Manns «Zauberberg» erinnern. Zum Beispiel in Sestri Levante an der ligurischen Küste, wo man sich nur in der Nebensaison so richtig vorstellen kann, dass Hans Christian Andersen hier einst an der Bucht sass und an seinen Märchen dichtete. An der «Schneekönigin» und der «kleinen Meerjungfrau» vielleicht oder an der «Prinzessin auf der Erbse».

Der gelbe Strand von Saint-Malo zum ersten...
Der gelbe Strand von Saint-Malo zum ersten...Bild: Simone Meier

Legt man sich zum ersten Mal mit einer Nebensaison an, braucht es allerdings das Rückgrat von Ferienpionieren. Dass ein Strand leer ist, heisst nicht, dass er vergiftet ist. Dass man der einzige Gast in einem Restaurant mit vielen, vielen Gault-Millau-Punkten ist, heisst nicht, dass man dort vergiftet wird. Es heisst bloss: Glück gehabt! Es heisst: Hier kocht der Chef ganz exklusiv für Sie! Und man sollte sich auch kein schlechtes Gewissen machen und sich beeilen, weil man denkt, dass der Koch doch viel lieber nach Hause gehen würde, nein, man soll sich zurücklehnen, geniessen, loben und überhaupt sein angenehmstes Gast-Naturell nach aussen kehren. Gute Gastgeber haben das verdient.

Ich erinnere mich zum Beispiel gerne an das Tanpopo in Saint-Malo, überhaupt an Saint-Malo, ach, Saint-Malo, ein endloser, menschenleerer Strand, Galettes und Austern, die hübsche Altstadt, und all die Lokale, die geöffnet waren, obwohl es ausserhalb der Ferienzeit und unter der Woche war. Am Wochenende strömten die Pariser Ferienhausbesitzer an die bretonische Küste, da war die Ruhe vorbei, aber vorher!

...und zum zweiten.
...und zum zweiten.Bild: Simone Meier

Im Tanpopo, wo es in meiner Erinnerung nur etwa vier minimalistische Tische gibt und wo eine Reservation sonst unumgänglich ist, waren wir an einem kostbaren Abend die einzigen, und Naoko kochte ganz allein für uns ihr dreistündiges Mahl, eine Kunst aus französischer und japanischer Meeresküche. Es war grossartig, und Naokos Mann François erzählte, wie sie einander kennengelernt hatten, am Strand von Hokkaido, wo er einst als Fischer gerbeitet hatte. Die beiden waren ein perfektes Paar, und ihre Küche die perfekte Fusion aus Frankreich und Japan, und was machte es möglich? Die Nebensaison! Genauso wie ein Besuch im Bouche en folie, einem klassisch französischen, vollkommen entzückenden kleinen Lokal am westlichen Ende der Stadtmauer. 

Auch die Schweiz hat ihren Reiz!

Und immer wieder leere Strände. Vielleicht sind sie das Schönste an der Nebensaison. Der gelbe Strand von Saint-Malo. Die beigen Kiesel von Brighton, wo sich ein einsames Karussell ganz selbstvergessen um sich dreht. Für niemanden. So wie die Wellen nur für sich selbst an den Strand schlagen. Und etwas weiter der weisse Pier, der im Hochsommer rot und braun gefleckt und ganz klebrig ist vom zerlaufenen Eis der Kinderscharen. Jetzt, in der Off Season, steht der Pier einem filigranen Skelett gleich im Sturm. Normalerweise ist Brighton, wo sich halb London im Sommer hin flüchtet, einer von Englands hässlichsten Fleischmärkten. In der Nebensaison weiss man wieder, wieso Könige hier ihre Lustschlösser bauten und ihre Geliebten vernaschten. Wahrscheinlich, weil in Brighton der Cider und die Austern genauso gut sind wie in Frankreich.

Wie ein fragiles Skelett trotzt der berühmte Pier von Brighton dem Sturm.Bild: Simone Meier
Bellinzona: Verzückter Blick vom Castelgrande...
Bellinzona: Verzückter Blick vom Castelgrande...Bild: Simone Meier
...und auf die vielen Markt-Würste.
...und auf die vielen Markt-Würste.Bild: Simone Meier

Und die Schweiz? Auch die hat ihren Reiz! Versuchen Sie es doch mit irgendeinem Weinberg. Es gibt recht viele davon und sie sind unterschätzt, dabei gibt es in den Rebbergs-Herbergen immer eine gute Aussicht und fast immer einen guten Wein, versuchen Sie das doch im Waadtland mit Genferseesicht oder in der Fattoria l'amorosa ausserhalb von Bellinzona, es ist dort trotz der Strommasten sehr schön, wir haben es ein Wochenende vor Ostern, als im Tessin noch alles normal war, ausprobiert.

Es war also ein Wochenende, wo das Tessin den Tessinern gehörte, am Sonntag hing die Stadt voller Würste, weil Markt war, und restlos alle waren aus irgendeinem Stück vom Schwein gemacht, weil der Süden die Schweine soviel mehr zu schätzen weiss als der versnobte Norden. Vor der katholischen Kirche, einem Renaissance-Bau nach Entwürfen des gleichen Architekten, der den Mailänder Dom erschaffen hat, machten Buben Kunststücke auf BMX-Rädern, und der Pfarrer stand mit ein paar Cheerleader-Girls daneben. Der Rest der Kirchgemeinde sass auf der Piazza und trank Spritz. So macht man seine Leute glücklich.

Spitzenkoch in Bellinzona

Hoch oben, auf der Terrasse des Castelgrande, serviert das Grotto guten Risotto – und die üppigste Wurstplatte, die man sich vorstellen kann, natürlich vom Schwein, wie fein. Und wir denken zurück an den Freitagabend, als wir – allein! – im für uns besten Restaurant des Tessins sassen, in der Osteria Mistral, bei Luca Brughelli, ein Habitué in den Gourmet-Guides, der einst bei Horst Petermann gearbeitet hat. Bei ihm eines seiner Überraschungsmenüs zu essen, ist ein Privileg, uns serviert er den Frühling, etwa ein Osternest aus Erbsensuppe mit einem «Ei» aus pürierten Rüebli, das exakt die Konsistenz eines wachweichen Eigelbs hat, umgeben von einem weissen Lakritzeschaum. Oder einen Sous-Vide-Lachs mit feinen Tessiner Spargeln, einer Passionsfrucht-Tobuinambur-Sauce und Topinamburchips. Und natürlich etwas vom Schwein, nicht irgendeins natürlich, nein, ein Carrée vom Pata Negra-Säuli, das auf der Zunge schmilzt. Zum Beispiel.

Und ja, wir haben etwas unternommen gegen die Kalorien, wir sind mit dem Velo die gut 25 Kilometer von Bellinzona nach Ascona gefahren, es gibt dort nämlich die perfekten Velowege, durch die Ticino-Auen und den Villen am Lago Maggiore entlang. Selbstverständlich hat uns in Ascona dann ein Restaurant erwartet ... Es gehörte nicht zu Ivo Adams Ascona-Kette, die gut ist, aber etwas überteuert, es war der wunderschöne Garten des Antico Ristorante Borromeo, mitten im Dorf, wo die italienischen Klassiker von schlichter Klasse sind. Und natürlich war der Garten, wo man sich im Sommer nur mit Reservation einen Platz ergattern kann, so gut wie leer. Der Rhododendron glühte nur für uns in sattem Magenta, und lila Rispen neigten sich über die Tische. Und alles, alles war gut.

Wieso nicht mal eine Weinbergs-Herberge? Hat garantiert gute Aussicht und guten Wein. Hier am Genfersee.Bild: AP
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