Die Klimastreiker fühlten sich «benutzt und belogen», die Jungen Grünen waren «hässig und enttäuscht». Der im August 2020 vorgestellte Klimaplan der Grünen stellte die Partei vor eine Zerreissprobe. Kurz nach der Publikation hat Balthasar Glättli das Zepter bei den Grünen übernommen. Und liess als Reaktion auf die Kritik den Plan überarbeiten. Ein Kernpunkt des am Dienstag vorgestellten Papiers liegt neu auf dem «wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel».
Der neue Klimaplan der Grünen eine Vision der «Quartierlädeli-Schweiz»: Weniger fliegen, weniger konsumieren. Flohmi statt Zalando. «Stichworte wie Verzicht und Genügsamkeit waren zu lange pfui für uns. Obwohl ‹besser statt mehr› ein super Slogan ist», erklärt Glättli der NZZ am Sonntag. Die Grünen streben laut dem Papier einen Wohlstand an, der auf «gesellschaftlichen Werten des Teilens, der Bescheidenheit und Solidarität» beruhe. Als Beispiel nennen die Grünen Repair-Cafés, städtische Gemüsegärten, lokale Währungen und Tauschsysteme.
Die Grünen sollen zu einer auf ihre Art wertkonservativen «Wenigerpartei» werden. Und sich damit sowohl von SP und GLP klar abgrenzen. «Wir dürfen keine Angst davor haben, das zu sagen, was mich und viele andere zu den Grünen brachte, dass es ein Gegenmodell zu unserer Überflussgesellschaft braucht», so Glättli.
Für die Jungen Grünen ist das nachgebesserte Klimapapier ein Erfolg. «Der neue Plan geht deutlich weiter und setzt wie gefordert bei gesellschaftlichen Fragen an. Jetzt müssen wir unser Zusammenleben grundsätzlich neu denken», sagt Julia Küng, Co-Präsidentin Junge Grüne, die auch im Klimastreik aktiv ist.
Eine entscheidende Neuerung fehlt jedoch im Masterplan der Grünen. Und zwar, dass die Schweiz wie vor den Wahlen proklamiert ab 2030 netto null Treibhausgase ausstossen soll. Es ist weiter von einer Klimapositivität 2040 die Rede. «Wir halten hier an unserer Kritik fest und werden schon bald Anträge einreichen, das Klimaziel zu verschärfen», sagt Küng.
Für Politologin Martina Mousson von gfs.bern ist das Timing für die Wertediskussion der Grünen ideal: «Wegen Corona sind viele Leute ohnehin gezwungen, ihre Lebensgewohnheiten über den Haufen zu werfen. Hier setzt die Partei an.»
Die Grünen hätten bis anhin eher links-liberal politisiert. Indem sie die freie, links-konservative Flanke besetzen, könne sie sich besser von der SP abgrenzen. Denn bei den letzten Wahlen sei die Partei grösstenteils auf Kosten der Sozialdemokraten gewachsen. «Die grosse Frage für die Grünen ist, ob die Klima-Thematik auch bei den nächsten Wahlen oberste Priorität für die Bevölkerung haben wird.»
Mit der neuen Ausrichtung stehen die Grünen zunehmend für links-konservative Werte. Eine Ausrichtung, die es so bislang in der Parteienlandschaft noch nicht gibt. Und damit etwa viele Bauern ansprechen dürfte. «Auf dem Land haben wir noch viel Wählerpotenzial», sagt Luzian Franzini, Vizepräsident Grüne Schweiz, zu watson. Denn Landwirte seien oft direkt von der Klimakrise betroffen und dementsprechend für Umweltschutz sensibilisiert.
So übernimmt Grünen-Nationalrat Kilian Baumann im Frühling das Präsidium des Kleinbauern-Verbandes. «Der Bauernstand ist längst keine politische Einheit mehr wie vor 30 Jahren. Es gibt viele Landwirte, die vermehrt ökologisch denken und produzieren», sagt auch Politologin Mousson.
Die Grünen seien im Kern schon immer eine «grundkonservative, gesellschaftsliberale» Partei gewesen, so Franzini weiter. «Wir wollen die Natur und damit unsere Lebensgrundlage erhalten.»
Die Klimastreik-Bewegung veröffentliche letzten Freitag ein fast 400-seitiges Papier mit Klima-Massnahmen, die noch viel weiter gehen. Der Konflikt Grüne vs. Klimastreik dürfte damit weiter schwelen. «Der Klimaplan der Grünen ist nicht ausreichend», schreibt etwa Klimastreiker Dominik Waser auf Twitter.
Dass wir im Jahr 2030 nur 50% (!!) unserer Inlandemissionen reduzieren sollten ist definitiv zu wenig. Der #Klimaplan der @GrueneCH ist nicht ausreichend! Dass dabei zudem die grauen Emissionen (2/3 aller Emissionen der Schweiz) nicht einbezogen sind, ist unfair. @klimastreik
— dominik waser #FightFor1Point5 (@domiwaser) January 12, 2021