Das Wort Krise stammt wie vieles in unserer Sprache aus dem Griechischen. Krisis lautet der ursprüngliche Begriff. Er wird in dieser Form bis heute in der Medizin verwendet und bezeichnet eine plötzliche, negative Veränderung des Gesundheitszustandes, etwa einen Anfall oder Schock.
Die Lungenkrankheit Covid-19 würde dieser Diagnose kaum entsprechen. Und doch ist auch sie eine Krisis. Das Coronavirus ist ein weitaus grösserer Schock für unsere Gesellschaft als die Terroranschläge der letzten Jahre. Sie brachten die Welt nicht aus den Fugen, wie unbedarfte Gemüter behaupteten. Unsere liberalen Demokratien wurden nie ernsthaft erschüttert.
Jetzt ist unsere Welt aus den Fugen, und zwar so richtig.
Unser Alltagsleben ist massiv eingeschränkt. Wir sind aufgefordert, möglichst zuhause zu bleiben. Wenn wir hinaus müssen, sollen wir Abstand zu unseren Mitmenschen halten. Die für den Homo Sapiens so wichtigen sozialen Kontakte dürfen nur noch aus der Ferne stattfinden, was dank multimedialen Mitteln immerhin einfacher ist als anno dazumal.
Denn kaum jemand hat je eine solche Situation erlebt, nicht einmal die über 80-Jährigen, die sich an den Zweiten Weltkrieg erinnern. Auch damals regierte der Bundesrat mit Notverordnungen, aber Schulen, Geschäfte, Restaurants und Theater blieben geöffnet. Nun sind alle Einrichtungen zur Ablenkung und Zerstreuung zu, an die sich unsere Wohlstandsgesellschaft gewöhnt hat.
Wir werden gerade auf beispiellose Weise auf uns selbst zurückgeworfen.
Dieser Ausnahmezustand, der helvetisch wohltemperiert als «ausserordentliche Lage» bezeichnet wird, überfordert viele. Auf grosses Echo stossen Ideen, man solle die Gefährdeten in Quarantäne stecken, damit die «normalen» Menschen ihr Leben zurückbekommen. Und es kursieren Videos, in denen respektable Mediziner erklären, das Coronavirus sei gar nicht schlimm.
Kennen diese Abkömmlinge des Hippokrates die Zustände in den Spitälern der Lombardei? Mehr als 20 Ärztinnen und Ärzte in Italien haben sich nicht nur infiziert, sie sind an der Krankheit gestorben, in Ausübung ihrer Pflicht gefallen, um den mancherorts beliebten Kriegsjargon zu verwenden. Sie zu ignorieren, ist Verrat am medizinischen Berufsethos.
Dennoch muss man solche Phänomene ernst nehmen. Sie reflektieren die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Normalität. In der Schweiz trifft dies besonders zu, denn wir sind ein Volk, das sich mit Akribie gegen alles und jedes absichert. Nirgends auf der Welt werden so viele Versicherungen verkauft. Der böse, aber nicht ganz falsche Begriff dafür lautet Vollkasko-Mentalität.
Typisch dafür ist die Anspruchshaltung von im Ausland gestrandeten Schweizern, möglichst subito nach Hause repatriiert zu werden, wenn nötig mit der Rega – wofür zahlt man Gönnerbeiträge? Die viel beschworene Eigenverantwortung gilt eben nur für Schönwetterlagen. Im Notfall ruft man lieber nach der schützenden Hand von Vater Staat – das gilt auch für Wirtschaftsliberale, die den Staat sonst gerne filetieren würden.
Die paradoxe Kehrseite ist eine gewisse Sorglosigkeit im Umgang mit Risiken. So hat die Coronakrise enthüllt, wie miserabel wir auf eine Pandemie vorbereitet waren. Einen grossen Teil der Versorgung mit medizinischem Grundbedarf haben wir ausgelagert, vor allem nach China, das das Virus auf den Rest der Welt losgelassen hat und dies nun zu vertuschen versucht.
Beim Ausbruch des Sars-Virus 2003 waren wir «nur mit viel Glück einer globalen Pandemie entgangen», sagte der China-Experte Sebastian Heilmann im watson-Interview. Er war vor Ort und deshalb «vorgewarnt». Nun sucht uns sein Ableger Sars-CoV-2 umso heftiger heim. Auch die Schweinegrippe hatte vor zehn Jahren nur kurz für Irritationen gesorgt und war bald vergessen.
Wir haben die Bedrohung durch Kriege und Krankheiten verdrängt, schrieb ich letztes Jahr. Nun hat uns die Realität ungeahnt rasch eingeholt und mit einer unangenehmen Tatsache konfrontiert: Nichts im Leben ist selbstverständlich. Nicht einmal die Versorgung mit Toilettenpapier.
Diese «Krisis» ist irgendwann überstanden. Wird sie uns nachhaltig verändern? Vieles hängt vom noch sehr ungewissen Verlauf ab. Ein realistisches Szenario besagt, dass wir das Gröbste nach ein paar Wochen hinter uns haben, das Virus uns aber weiter in Atem halten wird, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht. Absehbar sind deshalb Auswirkungen in verschiedenen Bereichen.
Ein wichtiger Faktor bei der Verbreitung des Coronavirus ist die Globalisierung. Sie wird nicht einfach rückgängig gemacht werden, aber es wird zu Korrekturen kommen. Das betrifft die erwähnte Versorgung mit medizinischem Schutzmaterial und Medikamenten. In diesem Bereich gab es schon vor der Pandemie Probleme. Nun muss die Produktion zurückgeholt werden.
Aus Effizienz- und Kostengründen (ein grosses Thema im Gesundheitswesen) kann es nur eine gesamteuropäische Lösung geben, das fordern auch Branchenvertreter. Obwohl die Bekämpfung der Krise eine Renaissance des Nationalstaats auszulösen scheint, könnte sie die Europäische Union stärken. Und zu einer zusätzlichen Herausforderung für das Nichtmitglied Schweiz werden.
Eine kurzfristige Herausforderung ist die Wiederankurbelung der Wirtschaft und die Abwicklung der teilweise gigantischen staatlichen Rettungsprogramme. Längerfristig geht es um die Frage, welche Berufe und Branchen systemrelevant sind und welche nicht. Aber das ist ein Thema für sich.
«Die Populisten werden jetzt entlarvt, da sie keine Antworten haben», sagte der Sicherheitsexperte Theodor Winkler in der «NZZ am Sonntag». Das trifft zu, und doch könnten sie kurzfristig profitieren. Ihre Verheissung eines Nationalstaats innerhalb sicherer Grenzen könnte auf manche Leute attraktiv wirken, obwohl ein Virus sich davon nicht beeindrucken lässt.
Die SVP könnte ihren Abwärtstrend stoppen, vor allem wenn sie ihren neoliberalen Kurs in der Wirtschaftspolitik korrigiert. Erste Anzeichen geben die Wahlen in ihren Hochburgen Schwyz und Thurgau. Profitieren können aber auch Politiker, die auf eine Öffnung der Schweiz setzen, weil solche Herausforderungen nur im globalen Rahmen zu bewältigen sind. Und die Grünen.
Eine Erkenntnis aus dieser Krise überstrahlt alles andere: Wir sind der Natur ausgeliefert. Und das nicht nur, wenn sie uns durch grosse Katastrophen wie Erdbeben und Hurrikans heimsucht, sondern auch in Form in mancher Hinsicht unfassbaren Erregers. Die Natur rächt sich nicht, das ist dummes Geschwätz, aber sie demonstriert, wer stärker ist.
«Macht euch die Erde untertan», heisst es im 1. Buch Mose. Die Coronakrise führt uns vor Augen, dass wir Untertanen der Erde sind, nicht umgekehrt. Entsprechend sollten wir uns in Zukunft verhalten, nicht zuletzt mit Blick auf die andere, noch grössere Herausforderung: die Klimakrise. Sie beeinflusst unser Leben nicht so direkt wie ein «Killervirus», dafür umso nachhaltiger.
Man hat es praktisch schon vergessen, aber der vergangene Winter war der erste in meinem nicht mehr ganz jungen Leben ohne Schnee im Flachland. Die Sommer sind in den letzten Jahren tendenziell heisser und trockener geworden, zum Leidwesen der Bauern. Wenn die Coronakrise die Einsicht stärkt, fossile Energieträger im Boden zu belassen, dann umso besser.
Kurzfristig wird eher das Gegenteil der Fall sein. Wir werden uns ins Leben stürzen, mehr fliegen und konsumieren. Dennoch kann und darf es nicht sein, dass wir nach diesem epochalen Ereignis weitermachen, als wäre nichts gewesen. Die «Krisis» ist auch ein Offenbarungseid für unsere Lernfähigkeit. Wir dürfen nicht versagen, denn die nächste Pandemie kommt bestimmt.
„Die Coronakrise ist der massivste Eingriff in unser Alltagsleben seit 100 Jahren. “
So, und jetzt noch mal zurück auf die Schulbank und ein bisschen Geschichte WWI und WWII.
Die Relativierung ist ja schon fast auf AfD-Niveau, wenn‘s nicht so erschreckend naiv wäre...