Das Jahr 2020 ist zu Ende. «Endlich!», werden unzählige Menschen sagen und denken. Sie wollen nur eines: Dieses verfluchte 2020 abhaken. Auf dass im neuen Jahr alles besser wird und dank den Corona-Impfungen eine Rückkehr zur Normalität möglich ist. Auf dass der endlose Albtraum verschwindet und wir 2020 vergessen können, ein für allemal!
>> Coronavirus: Alle News im Liveticker
Aber sollen wir 2020 wirklich vergessen? Das wäre fatal, denn diese Pandemie ist bei allem Stress eine wichtige Lektion, für uns als Individuen, die Schweiz und die Menschheit.
Das ausgelutschte Bonmot, wonach eine Krise auch eine Chance ist, war selten so treffend wie im Corona-Jahr. Das gilt besonders für unser Land. An der modernen Schweiz seien globale Krisen «meist wie Gewitterstürme am Horizont» vorbeigezogen, schrieb der St.Galler Historiker Caspar Hirschi in der «NZZ am Sonntag». Jetzt waren wir mittendrin.
Als es im März so richtig los ging, standen wir in den Supermärkten plötzlich vor leergehamsterten Regalen. Solche Bilder kannten wir zuvor nur aus dem Fernsehen. Besonders gefragt war ausgerechnet Toilettenpapier. Offenbar hatten damals ziemlich viele Menschen (Achtung, Sarkasmus!) auf einmal die Hosen voll. Man kann es nachvollziehen.
Den Zweiten Weltkrieg, diesen europäischen Jahrhundert-Wahnsinn, hatten wir nur als Zaungäste miterlebt. Wir blieben sogar von grossen Naturkatastrophen verschont. Auch Krankheiten hatten dank dem medizinischen Fortschritt viel von ihrem Schrecken verloren. Bis uns ein vermutlich aus China stammendes Virus die Grenzen des Daseins aufzeigte.
Das gilt erst einmal wortwörtlich. Über 100-Jährige haben eine Corona-Infektion überlebt, unter 40-Jährige sind gestorben. Auch sonst waren wir existentiell gefordert. Manche arbeiteten bis zur Erschöpfung, vor allem Pflegekräfte, aber auch viele der oft schlecht bezahlten Menschen, deren Tätigkeit als «systemrelevant» (das Wort des Jahres) gilt.
Andere waren von einem Tag auf den anderen ohne Arbeit und mit Existenzängsten konfrontiert. Ein Teil von uns erlebte im Homeoffice, wie herausfordernd die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sein kann, besonders wenn die Schulen geschlossen sind. Im besten Fall wird dies die Sensibilität für das Thema im männlichen Teil der Bevölkerung erhöhen.
Viele taten sich auch schwer damit, dass vieles wegfiel, was in normalen Zeiten das Leben angenehm macht. Unsere vom Wohlstand verwöhnte Gesellschaft hat Mühe mit dem Verzicht. Das ist im Fall der Jungen zu einem gewissen Grad verständlich. Obwohl das Virus sie weniger bedroht als ältere Menschen, werden ihnen grosse Opfer abverlangt.
Dennoch ist die Forderung, man solle die Risikogruppen schützen (sprich isolieren), damit die «normalen» Menschen ihr gewohntes Leben zurückbekommen, asozial und kaum umsetzbar. Die Pandemie entlarvt in solchen Fällen, wie schnell unsere famose Eigenverantwortung in Egoismus umschlagen kann. Und jeder sich selbst der Nächste ist.
An Appellen an die Eigenverantwortung hat es 2020 nicht gefehlt. Jetzt zeigt sich, dass sie vor allem dann funktioniert, wenn es ums Finanzielle geht. In der Schweiz gilt es als eine Art Ehrensache, dass man dem Staat nicht zur Last fällt, ob als Einzelperson oder als Unternehmen. Also versucht man, sich auf Teufel komm raus durchzukämpfen.
Nun sieht es so aus, als ob der «Schweizer Weg», der auf Gesundheit und Wirtschaft Rücksicht nehmen will, in eine Lose-lose-Situation mündet. Viele Betriebe werden ohne staatliche Hilfe nicht überleben, und in den Spitälern könnte es langfristig zu einem Notstand kommen, wenn das ausgepowerte Pflegepersonal den Dienst quittieren sollte.
«Wenn das Coronavirus ein Test für die Robustheit einer Gesellschaft ist, dann ist die Schweiz in der zweiten Welle durchgefallen», schrieb Historiker Caspar Hirschi. In gewisser Weise rächt es sich, dass wir die erste Welle im Frühjahr gut überstanden haben, dank einer disziplinierten Bevölkerung (man denke an Ostern) und vor allem sehr viel Glück.
Heute darf man es als amtlich bezeichnen, dass der Bundesrat Mitte März gerade rechtzeitig die Notbremse gezogen hatte, als er das Land in den Lockdown versetzte. In der Deutschschweiz profitieren wir zudem davon, dass unsere Nachbarn Deutschland und Österreich noch stärker verschont wurden. Das machte uns im Sommer sorglos.
Man kann sich rückblickend nur noch wundern, warum in der Schweiz ab Oktober wieder Grossveranstaltungen mit Tausenden Zuschauern zugelassen wurden. Obwohl Experten schon früh und eindringlich vor dem erhöhten Ansteckungsrisiko in der kalten Jahreszeit gewarnt hatten. Prompt überrollte uns die zweite Corona-Welle wie ein Tsunami.
Die Schweiz wurde vom Vorbild zum Schandfleck, gerade was die Sterbezahlen betrifft. Das liegt nicht nur, aber auch an der Politik. Eigentlich sind seit Juni die Kantone in der Pflicht. Doch sie versäumten nicht nur den Aufbau von effizienten Test- und Tracing-Kapazitäten, sie erwiesen sich generell im Umgang mit dieser Herausforderung als heillos überfordert.
«Was sich hier ereignete, war kein Versagen des Föderalismus, sondern ein Scheitern von Exekutivpolitikern, die sich noch nie in einer Krise haben bewähren müssen», meint Caspar Hirschi. Das trifft zu, sowohl für die Kantonsregierungen wie den Bundesrat, und ist doch nur ein Teil der Wahrheit. Denn wir haben sehr wohl ein Systemproblem.
Unsere viel gerühmte Konkordanz beruht auf dem Prinzip der geteilten Verantwortung. Keine politische Gruppierung soll zu viel Macht erhalten. In der Realität führt dies häufig dazu, dass niemand sich verantwortlich fühlt. Zu viele Kantone waren in der zweiten Welle nicht bereit, unpopuläre Massnahmen zu ergreifen, und auch das Parlament machte keine gute Figur.
Man muss es so deutlich sagen: Der Schweizer Föderalismus ist nicht krisenfest, sondern ein Schönwetter-Konstrukt.
Man kann nur hoffen, dass dieses Politikversagen gründlich aufgearbeitet wird. Denn das war mit Sicherheit nicht die letzte Pandemie. Seit der Jahrtausendwende haben diverse Viren die Menschheit heimgesucht: Sars, Mers, Ebola, Zika, Schweine- und Vogelgrippe. Wir hatten unverschämtes Glück, dass es uns vor Sars-Cov-2 nie «erwischt» hat.
Teilweise war es knapp, etwa bei der Schweinegrippe vor rund zehn Jahren. Damals entstand ein Hype um das vermeintliche Wundermittel Tamiflu. Wir blieben erneut verschont. Auch deshalb waren wir so schlecht vorbereitet, als mit Sars-Cov-2 ein Erreger auftauchte, dem wir nicht mehr entkommen konnten. Irgendwann ist das Glück aufgebraucht.
Dafür verantwortlich sind die Globalisierung und der Raubbau an der Natur. Er erleichtert es gefährlichen Viren, vom Tier auf den Menschen überzuspringen. Solche Zoonosen, wie der Fachbegriff lautet, werden nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation WHO zunehmen. Sie hat das 21. Jahrhundert zum «Jahrhundert der Pandemien» erklärt.
Die aktuelle Krise ist deshalb auch ein wichtiges Signal an die gesamte Menschheit. Wir sind die Untertanen der Erde, nicht umgekehrt. Ein winziges, für das Auge unsichtbares Virus hat genügt, um uns in die Knie zu zwingen. Wir haben die Mittel, um es zu besiegen. Das zeigt die rekordverdächtige Entwicklung der Impfstoffe. Aber die «Kollateralschäden» sind enorm.
Und es gibt Erreger, die sich kaum bändigen lassen. Gegen das HI-Virus gibt es bis heute keine Impfung. Letztlich ist die Natur stärker als der Mensch. Das gilt auch für die auf längere Sicht viel weitreichendere Klimakrise. Vielleicht schärft Corona unser Bewusstsein, dass wir in diesem Bereich wesentlich mehr tun müssen. Hoffen darf man zumindest.
Vorerst aber ist zu befürchten, dass die Krise uns bis weit ins 2021 auf Trab halten wird. Auch aus diesem Grund ist dieses «Jahr zum Vergessen» eines, das wir nie vergessen dürfen.
Wir Schweizer zeigen gerne mit dem Finger auf jemanden. Nun ist es die Politik, der Föderalismus, die Skifahrer, oder sonst wer. Aber wir sollten mit dem Finger auf uns zeigen und uns jederzeit so verhalten, als wären wir infektiös.
"Die Pandemie entlarvt in solchen Fällen, wie schnell unsere famose Eigenverantwortung in Egoismus umschlagen kann. Und jeder sich selbst der Nächste ist."
Schön gesagt.
Trotzdem stimmt es natürlich, dass wir gerade das Jahr 2020 nicht vergessen dürfen und daraus Komsequenzen ziehen müssen.